nnz-Interview

Der Schalter muss wieder umgelegt werden

Freitag
17.05.2024, 09:26 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
Die Migration ist und bleibt bestimmendes Thema dieser Tage, auch für den Landkreis Nordhausen. Die nnz hat mit Landrat Matthias Jendricke über Bevölkerungsschwund und Zuwanderung, Abschiebung, Integration und Bürgergeld gesprochen...

Landrat Matthias Jendricke (SPD) (Foto: agl) Landrat Matthias Jendricke (SPD) (Foto: agl)


nnz: Herr Landrat, wie viele Ausländer leben zur Zeit im Landkreis?

Matthias Jendricke: Auf unsere rund 83.000 Einwohner entfallen um die 7.400 Personen mit einem ausländischen Pass. Es gibt da häufig die Vorstellung, das dass alles Asylbewerber seien, was aber nicht stimmt. Darunter fallen auch etwa 1.400 Bürger aus anderen EU-Staaten und knappe 2.200 Ukrainer, von denen etwa 200 auch schon vor den Kriegsereignissen hier gelebt haben.

Dazu gesellen sich fast genau 1.000 Personen aus Großbritannien, den USA, China, Vietnam, der Türkei, Südamerika oder auch Indien. Eine größere Gruppe stellen die Menschen aus Syrien mit etwa 800 Personen. Es verbleiben dann noch etwa 2.000 Personen, welche man den üblichen Fluchtstaaten zuordnen kann und von denen aber auch schon die Mehrheit länger hier bei uns lebt.

nnz: Wie viele Menschen sind letztes Jahr zu uns gekommen?

Jendricke: Im Asylbereich waren es rund 300 Personen und aus der Ukraine knapp 400 Menschen. Man muss aber beachten, dass nach der Anerkennung manche dann schon wieder weitergezogen sind. Die Zahlen summieren sich nicht nur laufend auf, wie das mitunter gerne dargestellt wird. Häufig ist das ein Kommen und Gehen, aber heutzutage mit klarer Registrierung und nicht mehr ungeordnet wie in der Vergangenheit. Wir müssen nicht denken, dass alle bei uns bleiben wollen. Für die Migranten sind wir meist eine unbekannte Provinz und viele zieht es weiter, meist in die westlichen Großstädte.

Übrigens verlieren wir leider jährlich zwischen 700 und 1.000 Einwohner, schon überwiegend aus dem statistischen Sterbeüberschuss, insofern wird sich erst noch zeigen, ob es im letzten Jahr insgesamt im Landkreis ein Einwohnerzuwachs oder eine Abnahme gab.

nnz: Wann ist denn die Einwohnerzahl im Kreis das letzte mal gewachsen?

Jendricke: Ein Einwohnerzuwachs gab es in den letzten Jahrzehnten nur 2015 und 2022, sonst ist unsere Einwohnerzahl immer zurückgegangen. Dieser Rückgang ist im Grunde nach für unsere Region auch die größte Bedrohung.

nnz:Das müssen Sie näher erläutern…

Jendricke: Der permanente Bevölkerungsrückgang ist für den Landkreis ein Rezessionspunkt, der schlicht zu volkswirtschaftlichen Verlusten führt. Das zieht Schritt um Schritt weitere Kreise. Das wir auf dem Arbeitsmarkt ein demographisches Problem haben, sehen wir schon lange, die Fakten sprechen da eine sehr klare Sprache. Aber da hört das Problem nicht auf. Der Handwerker findet keine Mitarbeiter mehr und bald auch keinen Nachfolger für die Übernahme. Irgendwann macht der Supermarkt zu, weil nicht mehr genug Kunden vor Ort leben, dann gibt es weniger Gastronomie, weniger Schulen, weniger Kindergärten, weniger Wohnungsbedarf - da folgt eins auf das andere in schleichenden Prozessen.

Wo weniger Menschen leben, wird weniger investiert, während die Kosten steigen. Es macht einen Unterschied, ob ich Infrastruktur für 10.000 oder 50.000 Menschen vorhalte. Wenn die mal für die 50.000 gebaut wurde, wird die Unter- und Aufrechterhaltung bei immer weniger Einwohnern für den Einzelnen pro Kopf teurer. Und die Verwaltungen haben weniger Geld, weil die Einwohnerzahl nun mal eine der Stellgrößen für die Schlüsselzuweisungen ist. Wir können froh sein, wenn wir in den nächsten Jahren unsere Bevölkerungszahlen halten. Der Landkreis sollte nicht unter 80.000 Einwohner fallen, wir hatten mal knappe 100.000. Und die Stadt Nordhausen sollte, wenn sie Oberzentrum sein will, nicht unter 40.000 liegen und auch da ist man näher dran, als einem lieb sein kann.

nnz: Auf der einen Seite braucht der Kreis mehr Menschen aber ist auch regelmäßig Spitzenreiter beim Thema Abschiebungen. Wie passt das zusammen?

Jendricke: Die Abnahme durch Abschiebungen ist als Rechnungsgröße in dem Feld eher zu vernachlässigen. Mit 19 umgesetzten Abschiebungen liegen wir im Thüringenvergleich bei 208 Abschiebungen insgesamt im vorderen Bereich, das sind aber keine Zahlen, die uns die Demographie retten. Aber, das sage ich in aller Deutlichkeit, dass Thema muss betrachtet werden und zwar konsequent. Früher hatten wir häufig die meisten Abschiebungen und in 2022 waren wir an zweiter Stelle. Wir sind da einfach konsequenter als andere Landkreise oder kreisfreie Städte. Und das mag nicht immer die Richtigen treffen, aber eben doch oft genug. Es sind komplizierte Verfahren, die Arbeit ist mühselig und oft klappt es nicht und für die Mitarbeiter, die mitunter Wochen an den Fällen sitzen, kann das sehr demotivierend sein. Aber es muss getan werden.

nnz: Was macht die Abschiebethematik denn so kompliziert?

Jendricke: Die Verfahren an sich sind kompliziert, viele Betroffene suchen sich juristische Hilfe, was ihr gutes Recht ist, die Sache in der Regel aber einfach nur in die Länge zieht. Über die Zeit geht die Mehrheit dann doch in den Abschiebeprozess. Die zweite Problematik ist, dass bei den Aufnahmeländern oft keine Bereitschaft da ist, die Leute zurückzunehmen. Das hat oft politische Gründe, in Libyen zum Beispiel war lange Zeit so viel Chaos, dass es vor Ort gar keine richtigen Ansprechpartner gab. Andere Länder nehmen wiederum nur kleine Kontingente und innerhalb der EU, wo die Dublin Regeln gelten, werden die Verfahren oft blockiert oder man ist zumindest sehr zurückhaltend in der Umsetzung, vor allem in Italien und Griechenland. Es gibt da keine richtige europäische Solidarität.

nnz: Wenn man der AfD so zu hört, dann ist das alles ganz einfach und die Leute verschwänden Ruckzuck wenn man nur wollen würde.

Jendricke: Zwischen Sagen und Machen liegen Welten, wir können das bei dem Kollegen in Sonneberg ganz gut sehen. Der ist auch mit großspurigen Worten angetreten, hinbekommen hat er scheinbar nur eine einzige Abschiebung. Und auch bei der Bezahlkarte für Flüchtlinge war der Kollege dort nun einer der letzten, welcher diese Karte eingeführt hat. Es gibt da keinen Schalter, den man einfach umlegen kann und wer etwas anderes behauptet, der lügt schlicht und ergreifend. Aber gerade weil genau das passiert, können wir das Thema nicht weg ignorieren. Diese Strategie der Isolierung und des Wegduckens hat nicht funktioniert. Wir müssen darüber reden, müssen uns damit auseinandersetzen und auch der Gesetzgeber ist da gefragt. Ich sehe mich da als Sozialdemokrat alter Schule, also fördern und fordern. Und gerade im Migrationsbereich müssen wir deutlicher sagen, wo die Reise hingehen soll.

nnz: Könnte ein Landrat einfach auf den Tisch hauen und sagen, man nimmt jetzt niemanden mehr auf?

Jendricke: Nein, natürlich nicht. Wir leben in einem ordentlich geführten und föderalem Rechtsstaat. Je nach Einwohnergröße haben die Landkreise feste Aufnahmequoten zu realisieren. Punkt aus. Bei uns ist das eine Quote von 4,2 Prozent der ankommenden Flüchtlinge in Thüringen. Kurzfristig können sie in den normalen Zeiten die Aufnahme auch mal unterbrechen, wenn es vor Ort organisatorische Probleme gibt. Wir haben jetzt auch gerade mehrfach den Bustransfer mal abgesagt. Aber langfristig müssen sie sich wieder an die Quote halten, sonst kommen die Busse unangemeldet vom Land zu uns und das ist dann schwierig für alle.

nnz: Die Flüchtlingspolitik im Landkreis wurde nicht nur von Rechts kritisiert, sie haben 2022 den Negativpreis des Thüringer Flüchtlingsrates bekommen.

Jendricke: Da ging es damals darum, dass wir an der Unterbringung in den Gemeinschaftsunterkünften festgehalten haben. Aber die Zeiten haben bewiesen, dass ich mit meiner Strategie der Ankunftsaufnahme in den GU Einrichtungen richtig liege. Weil wir 10 GU Einrichtungen im Landkreis vorhalten, mussten wir keine Turnhallen zur Flüchtlingsunterbringung nutzen, wie andere Regionen. Fremde Menschen aus anderen Kulturkreisen hier aufzunehmen, ist in einer GU am Anfang für alle die beste Lösung. Teilweise treffen diese Menschen dort auch auf ihre Landsleute und so gibt es auch ein System der Selbsthilfe. Am besten wäre es, wenn wir in den GU‘s so viele Plätze hätten, dass die Migranten erst eine Wohnung bekommen, wenn sie auch arbeiten gehen - das wäre doch ein Anreiz. Zudem sind die GU-Plätze auch für eine leichtere Abschiebung erforderlich.

nnz: Ihre Ansätze stoßen auch in den eigenen Reihen nicht nur auf Gegenliebe. Wohin sollte den „die Reise“ ihrer Meinung nach gehen?

Jendricke: Wir helfen den Menschen, die hier herkommen. Aber nach einer angemessenen Zeit will ich sie arbeiten sehen und wer dies nicht versteht, muss mit Ärger und Leistungskürzungen rechnen. Da würde ich mir tatsächlich noch bessere gesetzliche Vorgaben wünschen. Und dies gilt natürlich auch - trotz aller Solidarität- für die Ukrainer hier. Der sofortige Bürgergeldanspruch war und ist ein großer Fehler.

nnz: Aber hier liegen doch zwischen Sagen und Machen auch Welten, oder nicht? In vielen Fällen dürfen Asylbewerber gar keiner Arbeit nachgehen, die bürokratischen Wege sind auch da lang und die Möglichkeiten, sich adäquat zu qualifizieren, etwa über Sprachkurse, sind nicht in ausreichender Zahl vorhanden.

Jendricke: Das stimmt so nicht ganz, als Ukrainer dürfen sie hier zum Beispiel von Tag Eins an arbeiten, da gilt der gleiche Status wie bei den EU-Ausländern. Die Sprachkurse sind ein Problem, die Systeme sind da völlig überlastet. Für Leute die neu ankommen, haben wir aktuell Wartezeiten von bis zu einem Jahr. Aber mal ehrlich, ich brauche auch nicht für jede Arbeit einen umfassenden Sprachkurs. Wer beim Bäcker Brötchen verkauft oder mit dem Lkw durch das Land fährt muss nicht astreines Deutsch sprechen. Zumal man im Beruf meiner Meinung nach auch eher und schneller zu einer Sprachpraxis findet, als in einem Kurs. Das gilt noch einmal mehr für die jüngeren im Kindergarten und der Schule. Und wenn die Kinder betreut werden, gibt es für die Mütter auch keinen Grund, nicht zu arbeiten.

nnz: Wenn denn eine Betreuung stattfinden kann. Wenn ich mich recht entsinne, haben die Schulen zumindest letztes Jahr noch deutlich hörbar darüber geklagt, dass man am Limit sei.

Jendricke: Die Lage an einzelnen Schulen ist weiter angespannt, keine Frage. Aber das ändert sich leider durch die schlechten Geburtenzahlen der letzten Jahre. Wir reden hier von rund 200 Kindern, welche inzwischen in der Altersgruppe von 0 bis 6 fehlen und das sind dann etwa zweieinhalb kleine Grundschulen. Schulen die wir womöglich schließen müssten, wenn wir nicht mehr genug Kinder haben und da kommen wir dann zurück zur Problematik von vorhin. Wir werden die Zuwanderung brauchen, um unsere Systeme aufrecht zu erhalten. Zudem ist nicht generell unser Problem, dass wir keinen Platz hätten, sondern das der Bedarf im Landkreis ungleich verteilt. Viele wollen halt in der Stadt Nordhausen wohnen und dann konzentriert sich das dort auch stärker. Ohne diese Zuwanderung hätte die Kreisstadt aber auch jetzt schon keine 40.000 Einwohner mehr und wäre beim Oberzentrum raus gewesen. Daher sollte sollte die Stadt lieber mal in neue Wohnungen investieren, um den Mietmarkt zu verbessern. 

nnz: Rechnen Sie denn mit signifikanten Änderungen in der Herangehensweise, etwa beim Bürgergeld?

Jendricke: Zum Bürgergeldanspruch wird es offenbar keine Änderungen geben, aber durch die eigenen Entscheidungen der Ukraine ändert sich inzwischen etwas. Denn die Ukraine hat verständlicherweise vor kurzem entschieden, dass die wehrfähigen Männer keine neuen Pässe mehr an den Botschaften im Ausland bekommen werden. Ich kann die Ukraine verstehen, wenn sie auf ihre Landsleute Druck ausüben müssen, um den Angriffen der Russen standhalten zu können. Für die ukrainischen Männer bedeutet dies nun hier, entweder man geht zurück oder man hat langfristig keinen gültigen Pass mehr. Insofern muss man klar sagen, wer nicht in die Ukraine zurückkehrt, muss jetzt hier arbeiten gehen, sein eigenes Einkommen verdienen und dann kann er nach Jahren und mit guten Deutschkenntnissen auch eine Einbürgerung beantragen. Und wenn die ukrainischen Frauen ihren Kindern hier eine Zukunft aufbauen wollen, dann gilt dies ebenso - Arbeiten gehen! Auch nach den Jahren der Kriege in Ex-Jugoslawien haben wir dann die Familien teilweise wieder abschieben müssen, das ist nicht schön.

nnz: Sie haben eben gesagt, das Sie sich mehr Pragmatismus im Umgang mit dem Thema Arbeit wünschen. Den bräuchten aber auch die Arbeitgeber, arbeiten wollen ist ja nur ein Teil der Medaille.

Jendricke: An genau dem Thema ist der Nordthüringer Unternehmerverband aktiv dran und bespricht das in der Wirtschaft in kleineren Runden immer wieder. Was uns da begegnet ist allerdings die Schwierigkeit, dass unter den Ukrainern, die ja arbeiten gehen können, viele eher auf Minijobs aus sind. Das hängt wiederum mit dem Bürgergeld zusammen. Bei den Entscheidungen hat man sich damals vielleicht von der Hoffnung leiten lassen, dass der Krieg ein zügiges Ende finden würde und aus der verständlichen Solidarität heraus gehandelt. Fakt ist, dass sich einige in diesem System ganz gut eingerichtet haben und da reicht dann halt der Minijob. Die Resonanz bei den Unternehmern ist gut, bei den potentiellen Arbeitskräften eher nicht. Deswegen bin ich der Meinung, dass der Schalter hier wieder umgelegt werden muss. Und ich begreife das auch nicht als Bestrafung, sondern als Integrationshilfe.

nnz: Bevor wir zum Ende kommen, wie ist das nun mit der neuen Einrichtung in Werther? Wer ist dort zuständig?

Jendricke: Das ehemalige Hotel in Werther ist eine Einrichtung des Landes Thüringen und nicht des Landkreises Nordhausen. Und die Servicegesellschaft betreibt die Einrichtung nur per Vertrag mit dem Land und auf Kosten des Landes. Dort kommen jetzt die Ukrainer in Thüringen an und werden von dort auf die Landkreise und Kreisfreien Städte verteilt. Wer, wann und wo hinkommt, wird von Landesmitarbeitern im Landesverwaltungsamt entschieden. Daher bleiben die Menschen auch nur eine mehrere Tage dort, um dann wieder weiterverteilt zu werden. Da die Ukrainer dort auch kein Geld bekommen, werden sie aber mit allen Mahlzeiten verpflegt. Die nnz hatte daraus dann ein „Hotel mit Vollpension“ gemacht, was rein technisch stimmt, aber nichts mit dem Luxus zu tun hat, den man sich da im Allgemeinen drunter vorstellt. Wir bringen die Leute halt nur geordnet unter und lassen keinen hungern. Insofern halte ich auch jede Stimmungsmache gegen die Menschen dort für unsozial bzw. unverschämt.

nnz: Als unverschämt empfanden Sie auch, dass die Fraktion der Bürgerliste im Kreistag sich über den Integrationsvertrag mit Sülzhayn aufgeregt hat.

Jendricke: Soviel Intrigen erleben sie halt nur in der Kommunalpolitik. Da lassen sich Mitglieder der Bürgerliste für Multikulti feiern und umgekehrt schreiben sie heimlich Schreiben ans Landesverwaltungsamt nach Weimar, um dem Landrat die Vertragsunterzeichnung mit dem Ellricher Bürgermeister zu unterbinden. Geklappt hat das nicht, Sülzhayn erhält in Zukunft per Vertrag 10.000 Euro pro Jahr für die besondere Integrationsleistung, die dort vor Ort unterstützt wird. Die Mittel dafür kommen aus den Töpfen der Ehrenamtsförderung, dem Projekt "Demokratie Leben!" und dem Landesprogramm für solidarisches Zusammenleben. Der Ortschaftsrat weiß am besten, was man damit machen kann und soll seine Projekte gewichten, wir beantragen als Kreis dann die entsprechenden Gelder und reichen das weiter. Das ist eine elegante Lösung und das hat der Kreistag ja dann auch so gesehen und daran festgehalten.

nnz: Herr Jendricke, wir Danken für das Gespräch.

Das Interview führte Angelo Glashagel