78. Jahrestag der Befreiung des Lager Mittelbau-Dora

Ihr Leid hat sich in unsere Herzen gebrannt

Montag
17.04.2023, 19:43 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
Die Befreiung des KZ Mittelbau-Dora jährt sich zum 78. mal. Im Rahmen des Gedenkens rückte man dabei heute das Schicksal der Sinti und Roma in den Blickpunkt, die noch lange nach dem Ende der Konzentrationslager mit Vorverurteilung und um Anerkennung zu kämpfen hatten…

Kranzniederlegung vor dem ehemaligen Krematorium des KZ Mittelbau-Dora (Foto: agl) Kranzniederlegung vor dem ehemaligen Krematorium des KZ Mittelbau-Dora (Foto: agl)


Noch drei Überlebenden des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora konnte man heute am Ort ihres einstigen Leidens begegnen. Die Zeitzeugen werden weniger und das Jahr, in dem man ohne sie der Befreiung gedenken wird, ist nicht mehr fern. Umso eindringlicher beschworen die politischen Redner, der Abgeordnete Carsten Schneider und Thüringens Landtagspräsidentin Birgit Pommer, heute einmal mehr die Bedeutung der Erinnerungskultur für das historische Gedächtnis des Landes, kommende Generationen und für den Erhalt von Demokratie und Menschenrechten. Was deren Abwesenheit bedeuten könne, zeigten die Geschehnisse im ehemaligen KZ nur allzu deutlich, war Landtagspräsidentin Pommer zu vernehmen. Die Nationalsozialisten hätten ihre Opfer durch die Reduzierung auf eine Nummer und deren Ressourcenverbrauch entmenschlicht, die Erinnerungskultur müsse genau das Gegenteil tun und die menschlichen Schicksale aus dem Meer der Zahlen herausheben.

Damit dies im vielschichtigen Komplex des KZ-Lagersystems überhaupt gelingen kann, haben sich die Gedenkstätten Buchenwald und Dora darauf verlegt, jedes Jahr einen besonderen Schwerpunkt auf einen der vielen Aspekte zu legen und im Jahr 78. nach der Befreiung ist das die Gruppe der Sinti und Roma.

Ähnlich der jüdischen Bevölkerung sah diese sich schon lange vor der vollen Entfaltung der KZ Schrecken mit Ausgrenzung und Verfolgung konfrontiert. Bettler, Diebe, Asoziale und fahrendes Volk - uralte Vorurteile und Stigmata fielen im NS-Staat auf fruchtbaren Boden und auf Ausgrenzung und Diskriminierung folgte der Völkermord, berichtete Petra Rosenberg vom Brandenburgischen Landesverband Deutscher Sinti und Roma. Der Weg hierher sei ihr nicht leicht gefallen, war doch der eigene Vater hier einst Gefangener.
Die erste Lagerhaft erduldet Otto Rosenberg schon im Alter von neun Jahren, erzählt die Tochter, 1936 war das, kurz vor den olympischen Spielen in Berlin. In Marzahn wurde die Sinti und Roma damals zusammengetrieben, „Rastplatz“ nannte man das euphemistisch im NS-Jargon. Unter polizeilicher Bewachung nutzten die Nazis die Gelegenheit für die „rassenbiologische Erfassung“. Mit 16 wird Otto zur Zwangsarbeit eingezogen, man beschuldigt ihn des Diebstahls und bald ist der Junge teil der Massen, die nach Auschwitz gebracht werden. Um im Netz von Polizei und SS zu landen, hätte im Falle der Sinti und Roma aber auch schon der Vorwurf der „Bummelei“ als Zwangsarbeiter gereicht, nimmt Carsten Schneider in seiner Rede vorweg.

Petra Rosenberg berichtet vom Schicksal ihres Vaters und ihrer Familie  (Foto: agl) Petra Rosenberg berichtet vom Schicksal ihres Vaters und ihrer Familie (Foto: agl) Für Otto geht es weiter: Buchenwald, Dora, Ellrich Juliushütte. Die Urgroßmutter und die jüngeren Familienmitglieder bleiben in Auschwitz, werden umgebracht. Im Kohnstein muss Rosenberg als „Stollenräumer“ schuften und erlebt unvorstellbares Leid, berichtet seine Tochter heute. Als „zweite Generation des Schmerzes“ seien Kinder wie sie mit schwer traumatisierten Eltern aufgewachsen. In mancher Nacht habe man den Vater nach den toten Geschwistern rufen hören, das Leid der Eltern habe sich den Kindern damals „in die Herzen gebrannt“, sagt Petra Rosenberg.

Das Leid der Lager ist aber nur die eine Seite dieser Geschichte, denn die endet nicht mit der Befreiung der KZ und dem Untergang der Nationalsozialisten. Die Vorurteile gegenüber „den Zigeunern“ bleiben auch danach noch lange hoffähig und sind in Teilen Europas bis heute tief verankert. In der DDR nutzt man nach dem Krieg die „Zigeuner Personalakten“ aus der NS-Zeit ohne viel Federlesens weiter und in der BRD greift man für erkennungsdienstliche Zwecke gleich auf die eintätowierten Häfltingszahlen aus den Konzentrationslagern zurück. Das sie überhaupt Opfer waren, dafür müssen die Sinti und Roma lange kämpfen, schließlich seien „die Zigeuner“ ja nur aus „kriminalpräventiven Gründen“ in die Konzentrationslager gekommen, so die Argumentation nach dem Krieg. Der Mord an Hunderttausenden, von den Opfern selbst verschuldet. „Man kannte keine Sühne, keine Scham. Die Klischees und Vorurteile blieben bestehen“, erzählt Rosenberg. Erst 1982 erkennt man in der Bundesrepublik unter dem Eindruck der Bürgerrechtsbewegung den Opferstatus an. Ein besonderer Schutz wird den Gräbern dieser NS-Opfer gar erst seit 2018 gewährt.

Erst die Ausgrenzung habe den Völkermord möglich gemacht. Und Ausgrenzung gäbe es auch hier und heute noch, vor allem in Osteuropa und jüngst im Zuge der Flüchtlingsbewegungen aus der Ukraine. Die Erinnerung an das Geschehene müsse man wach halten, schließt Rosenberg, auch um die zu stören, die die Lehren der Geschichte verdrängen wollten.
Angelo Glashagel