Aus dem Jugendhilfeausschuss

Auf wackeligem Boden

Dienstag
02.06.2020, 23:00 Uhr
Autor
red
veröffentlicht unter:
Drei Monate lang konnte der größte Ausschuss des Landkreises nicht zusammenkommen, heute traf sich der Jugendhilfeausschuss zum ersten mal wieder und zog ein vorläufiges Resümee der letzten Wochen. Das fiel verhalten positiv aus, die aktuelle Situation an Kindergärten und Schulen bringe aber gerade ganz neue Herausforderungen mit sich...

Der Jugendhilfeausschuss des Kreises kam heute in der Morgenröte zusammen (Foto: agl) Der Jugendhilfeausschuss des Kreises kam heute in der Morgenröte zusammen (Foto: agl)

Als der Jugendhilfeausschuss das letzte mal zusammentrat, da drängte man sich noch im Beisein zahlreicher Gäste, in den Räumen des Horizont-Vereins am Taschenberg. Das war im Februar. Seitdem hat sich vieles ereignet, mit dem man so nicht gerechnet hatte und mit dem niemand rechnen konnte.

„Die Problemlagen, die in den Bereichen Schule und Kita, in der Digitalisierung und in der Jugendhifle immer im Hintergrund geschlummert haben, sind, wie durch ein Brennglas, in den Blickpunkt gerückt“, resümierte der erste Beigeordnete des Kreises, Stefan Nüßle.

Wie funktioniert Unterricht digital, wenn die Schule nicht betreten werden darf? Wie und wo kann eine Notbetreuung organisiert werden? Wer darf die in Anspruch nehmen? Was tun, wenn es in Familien „brennt“, die üblichen Anlaufstellen wie Kinderheime aber - siehe Schulschließung, vollends ausgelastet sind? Wie kann Arbeit, die eigentlich persönlichen Kontakt erfordert, überhaupt aus dem Home-Office funktionieren? Lässt man Angebote, die unter den neuen Bedingungen nicht arbeiten können, einfach „sterben“? Wie können Einrichtungen sicher wieder geöffnet werden?

An Herausforderungen hat es nicht gemangelt. „Wir wurden mit vielen Problemen konfrontiert und ich danke allen, die dazu beigetragen haben, das es doch funktioniert hat“, sagte Nüßle am Nachmittag. In Zusammenarbeit mit dem freien Trägern sei es gelungen, die Gesamtinfrastruktur am Leben zu halten, man habe gemeinsam ein „konstruktives Ergebnis“ erzielt.

So gelang es etwa Ende März, trotz Personalmangel und Platznot, Räumlichkeiten für die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen auf die Beine zu stellen. Seit Januar musste der Landkreis 40 solcher Inobhutnahmen durchführen, wobei 20 in den letzten Wochen durch die Noteinrichtung „durchgegangen“ sind. Die Zahlen fielen damit deutlich höher aus als üblich: im gesamten Jahr 2019 registrierte man im Jugendamt 61 solcher Maßnahmen, im Jahr zuvor waren es 58, erklärte die zuständige Mitarbeiterin, Ina Schmücking. Im Schnitt blieben die Kinder im Alter zwischen 11 Monaten und 17 Jahren acht Tage in der Noteinrichtung. Heute wurde der Notbehelf wieder geschlossen und man sollte planerische Konsequenzen ziehen. „Corona hat gezeigt, das unser System dicht ist und das Handlungsbedarf besteht“, erklärte Schmücking.

Die Hintergründe für die Inobhutnahmen waren vielfältig. Manche, zum Teil psychisch kranke Eltern seien mit der dauerhaften Betreuung und Erziehung ihrer Kinder überfordert gewesen, in mehreren Fällen mussten Alleinerziehende Mütter ohne familiäres Hilfsnetz ins Krankenhaus verbracht werden.

Weiter auf wackeligem Boden

Mit der schrittweisen Rückkehr in den Regelbetrieb von Schulen und Kindergärten hören die Probleme nicht auf, es treten vielmehr neue zu Tage. Das Jugendamt sei in der jüngsten Zeit mit Anfragen von Eltern und Arbeitgebern „schier überrannt“ worden, berichtete Sabine Reich. „Wir hatten zum Teil 100 Anfragen am Tag und wir sind sehr dankbar, das wir hier viel Friedlichkeit und Verständnis wahrnehmen durften und das die Kommunikation so gut lief. Das wird in Erinnerung bleiben.“

Wirklich praktische Hilfe konnte man aber wohl nur in den wenigsten Fällen anbieten. Das frische Chaos rund um „Wechselmodell“ und „eingeschränkten Regelbetrieb“ in ordentliche Bahnen zu lenken liegt nicht in der Hand des Landratsamtes. Hier hat man vor allem die Zahlen und den Draht nach Erfurt, nicht aber die Handlungshoheit. Die liegt bei den Kommunen und Trägern der jeweiligen Einrichtungen, die unter Corona-Regeln wiederrum an räumliche Gegebenheiten vor Ort und ihre personelle Stärke gebunden sind.

Aktuell zähle man im Landkreis 20 Kindergärten, die im Wechselmodell operieren sowie 22 die eine eingeschränkte Betreuungszeit anbieten können. Unter normalen Bedingungen werden in der Region 4.100 Kita-Plätze bereitgestellt, mit den aktuellen Einschränkungen komme man zur Zeit lediglich auf etwa 1.950 Plätze, erklärte Reich. Ziehe man die Personalsituation mit in die Betrachtung ein, lande man bei 1.777 Plätzen. Tatsächlich genutzt würden im Moment 1.490 Plätze, wobei man davon ausgehe, dass diese Zahlen im laufe der Woche steigen werden, da weitere Kindergärten ihre Pforten wieder öffnen.

Ein weiteres, signifikantes Problem ist der Wegfall der bisherigen Notbetreuung. Eltern in „systemrelevanten“ Berufen, die bis dato von der Notbetreuung Gebrauch machen konnten, müssen nun um freie Betreuungsplätze bangen. Ganz davon abgesehen, das wochenweise Wechsel und stundenweise Betreuung an einzelnen Tagen viele Familien vor enorme Herausforderungen stellen dürften. „Das ist eine Katastrophe. Das kannst du keinem anbieten“, meinte etwa Norbert Klodt. Er könne jede Familie verstehen, die jetzt auf einen Kitaplatz pocht. Überhaupt nach „systemrelevant“ und nicht relevant zu unterscheiden, hält der Leiter der Nordhäuser Caritas für problematisch. Für die Zukunft müsse man daraus lernen und früher für Klarheit sorgen.

Im Landratsamt könne man aktuell nur zuhören, erklärte Nüßle. Ein Eingreifen von Seiten des Kreises sei nur im Falle der Kindeswohlgefährdung möglich. „Wir können niemanden anweisen, nicht die Kommunen und nicht die Träger und wir können niemanden diese Entscheidungen abnehmen.“ Auf klare Vorgaben des Landes warte man gespannt. Heute stehe man „mitunter noch auf sehr wackeligem Boden“, sagte der Beigeordnete. Die Erfahrungen der jüngsten Zeit hätten gezeigt, dass man in Erfurt weit weg von dem sei, was vor Ort tatsächlich passiert.

Einen Blick gen Erfurt warf auch Andreas Weigel, der Leiter des Jugendsozialwerks. Die Verwaltung müsse gegenüber dem Land in Sachen Aufhebung der Elternbeiträge aufstehen, meinte Weigel. Als Träger sei man vertraglich an die Kommunen gebunden, würden die Beiträge für die letzten Monate und für die Zeit der eingeschränkten Betreuung nicht erlassen, sei das den Eltern gegenüber ungerecht. Einen Beschluss fasste man dazu heute nicht, der Ausschuss will sich aber schriftlich an das Bildungsministerium wenden.
Angelo Glashagel