Nachwuchssorgen und Standortnachteile

Nordhäuser Physiotherapeuten schlagen Alarm

Mittwoch
14.02.2024, 13:00 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
Ob Krankheit, Unfall, Operation oder schlicht Alter - die Wahrscheinlichkeit, dass man im Laufe des Lebens einmal die Dienste der Physiotherapie in Anspruch nehmen muss ist hoch. Wenn es denn noch genügend gelernte Therapeuten gibt. Die Nachwuchssorgen sind groß, in Nordhausen schlägt man bereits Alarm…

Physiotherapeuten in Ausbildung am Nordhäuser Berufsschulzentrum (Foto: agl) Physiotherapeuten in Ausbildung am Nordhäuser Berufsschulzentrum (Foto: agl)


Als Philipp Hoinkes sich Mitte der 90er Jahre dazu entschloss, Physiotherapeut zu werden, zählte man an der Nordhäuser Berufsschule auf 20 Ausbildungsplätze um die 900 Bewerber. Heute begleitet man im Schulteil an der Morgenröte ganze 25 Schülerinnen und Schüler - über alle drei Ausbildungsjahrgänge.

Eigentlich ist man gut aufgestellt, hat nicht nur Erfahrung sondern auch gute Ausstattung. Seit 1977 werden in Nordhausen Physiotherapeuten ausgebildet, damals noch unter dem Begriff „Krankengymnasten“. „Der Beruf ist sehr breit aufgestellt. Wer gerne anderen helfen möchte, aber nicht in die Pflege gehen will, hat hier alle Möglichkeiten. Wir arbeiten mit Kindern, Erwachsenen und Senioren, können in den Wellnessbereich gehen, in der Fitness und im Sport arbeiten, im Krankenhaus oder in der Reha. Und man kann sich selbstständig machen, das gibt dann noch einmal ganz andere Gestaltungsmöglichkeiten. Der Raum zur Verwirklichung ist groß. Außerdem bleibt man selber fit.“, sagt Mirha Fleischer, Lehrerin am Berufsschulzentrum.

Physiotherapeut Hoinkes hat genau das getan. „Ich habe mit 16 angefangen und die Entscheidung nie bereut. Ich habe mit ITS Patienten gearbeitet, Säuglinge behandelt, Herzsport angeboten und habe heute zwei Praxen mit 20 Mitarbeitern. Wir werden gebraucht, das ist nicht nur ein gutes Gefühl sondern auch Krisenfest“, erzählt der 44jährige. Viele gute Gründe für junge Menschen den Beruf zu ergreifen und doch haben Hoinkes und viele andere Physiotherapeuten in der Region zunehmend Nachwuchssorgen.

Wenn sich nicht bald etwas ändere, gehe man auf eine deutliche Unterversorgung zu, berichtet Kristin Krauß, ebenfalls Lehrerin am Berufsschulzentrum. „Wir haben früher 20 Schülerinnen und Schüler pro Jahr gehabt. Im letzten Jahr sind in ganz Thüringen 54 neue Physiotherapeuten aus der Ausbildung gekommen. Bei rund zwei Millionen Einwohnern kann man hochrechnen wohin das führen wird“, so Krauß.

v.l.: Kristin Krauß, Philipp Hoinkes und Mirka Fleischer (Foto: agl) v.l.: Kristin Krauß, Philipp Hoinkes und Mirka Fleischer (Foto: agl)


Zugegeben, leicht ist der Beruf nicht, die Ausbildung ist anspruchsvoll, man muss den menschlichen Körper buchstäblich in- und auswendig kennen, insbesondere wenn es um den Bewegungsapparat geht. 1680 Praxisstunden sieht die Ausbildung im Minimum vor mit einem Praktikum im ersten Schuljahr, viel Theorie im zweiten und Vollkontakt mit dem Patienten im dritten Jahr.

Es fällt auf das Geld zurück
Am Anspruch liegt die Nachwuchsflaute aber nicht, sind sich die Nordhäuser sicher - es liegt am Geld. Anders als bei vielen anderen Ausbildungsberufen erhalten angehende Physiotherapeuten kein Entgelt. Wer kann, der beantragt Bafög, darüber hinaus muss die Ausbildung selber finanziert werden. Im Kampf um die Köpfe ist man damit klar im Nachteil, wer auf’s Geld schauen muss geht lieber zu den medizinischen Technologen oder in den Pflegebereich. Wer einmal im Job sei, der habe sehr gute Verdienstmöglichkeiten, berichten die Physiotherapeuten, aber bis dahin ist es für viele Auszubildende ein steiniger Weg. Dass sich die Vergütung der Ausbildung direkt auf die Bewerberzahlen auswirke habe man im eigenen Haus dort sehr gut beobachten können, berichtet die Schulleiterin Ines Börner.

Ändern kann man an der grundlegenden Problematik wenig, die Politik gibt die Spielregeln vor. Kristin Krauß hat bereits alle Register gezogen, die gesundheitspolitischen Sprecher der Parteien im Thüringer Landtag angeschrieben, Abgeordnete eingeladen, gewarnt, gemahnt, gebeten, bis hinauf zum Bundesgesundheitsministerium. Bewegung in der Sache sieht man wenig, deutsche Mühlen mahlen bekanntermaßen langsam. Ausbildung ist Bundesrecht und wird „landestypisch umgesetzt“, erläutern die Lehrer, für Thüringen bedeute „landestypisch“ im Moment „schlecht und dauert länger“. In direkter Nachbarschaft in Göttingen und Halle gibt es Unikliniken, die nach anderen Regeln handeln und ihre Auszubildenden auch vergüten können, also auch hier: Standortnachteil für Nordthüringen.

Nur jammern hilft nicht
Klagelieder anzustimmen hilft nicht, wenn sich sonst niemand bewegt, dann muss man es eben selber tun und Anreize schaffen, schlägt Philipp Hoinkes vor, nicht nur finanzielle. „Ich muss immer etwas schmunzeln wenn hier über die vier Tage Woche diskutiert wird. Wir machen das in unseren Praxen schon seit 10 Jahren mit flexiblen Arbeitszeitmodellen. Wir bezahlen Fortbildungen und auch den Kindergartenplatz wenn der Bedarf besteht“, erzählt der Physiotherapeut. Neben modernen Methoden und „High Tech“ hält man den Nachwuchs auch über leistungsbezogene, finanzielle Anreize. Die Ausbildungswochen in der Pädiatrie sind gut gelaufen? Dann gibt’s einen Bonus.

Wo der Schule die Hände gebunden sind, müssten die Praxen handeln, meint Hoinkes. Es sei möglich, Schülerinnen und Schüler in der Ausbildung über Mini- bis Midijobs anzustellen und so finanziell zu unterstützen und stärker zu binden. Die Idee findet auch in der Berufsschule Anklang, um aber Effekte in der Breite zu erzielen müssten die Physiotherapeuten der Region an einem Strang ziehen und dazu müssen erst einmal alle an einen Tisch gebracht werden.

Der Berufsverband sei da bisher keine Hilfe gewesen, heißt es aus der Schule, also wird man auch hier selber anpacken müssen. Noch werden solche regionalen Lösungsansätze nur gedacht, wann man konkrete Schritte machen kann, steht noch nicht fest.

Sehr konkret und praktisch erfahrbar wird hingegen der Tag der offenen Tür in der Morgenröte Ende des Monats. Am 28. Februar laden die Gesundheitsberufe Berufsschüler in spe ein, sich den Schulalltag und die Ausbildungsinhalte einmal vor Ort anzusehen. Neben dem Pflegebereich, Medizintechnologie, Friseuren und den zahnmedizinischen Berufen stellen sich dann auch die Phyisotherapeuten vor.
Angelo Glashagel