nnz-Forumsbeitrag von Alexander Rathnau

Vergesslichkeit zweckoptimiert oder fehlt Gedächtnis?

Mittwoch
01.11.2023, 18:26 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
Ob es zweckoptimierte Vergesslichkeit oder ein fehlendes historisches Gedächtnis ist, was wir heute in de rPolitik erleben, das fragt sich unser Leser Alexander Rathnau und führt einige Beispiele angesichts der aktuellen Eskalation im Nahen Osten auf...

Am 4. November 1995, vor 28 Jahren wurde der israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin von einem Bürger seines Landes ermordet. Dem vorausgegangen waren Friedensverhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern, festgehalten in den Abkommen Oslo I und II. 1994 gab es für diesen mutigen Schritt den Friedensnobelpreis für Rabin, Peres und Arafat. Größter politischer Widersacher sowohl gegen die damalige Regierung unter Rabin als auch gegen eine „Zweistaatenlösung“ war der auf die Ermordung Rabin folgende Ministerpräsident Netanjahu.

Erstaunlich ist, dass in der aktuellen Bundespolitik diese historischen Fakten nicht als Grundlage genommen werden, um zu einer friedensstiftenden Politik im Nahen Osten zurückzukehren.

Daher auch mein Ausgangsgedanke: Fußt unsere Bundes- und Außenpolitik auf zweckoptimierter Vergesslichkeit oder fehlt es den handelnden Personen schlicht am historischen Wissen?

Leider wiederholt sich diese zweckoptimierte Vergesslichkeit immer wieder. Wer erinnert sich noch an die Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO 1999 und die darauffolgenden Bestrebungen des Kosovo sich für unabhängig von Serbien zu erklären. Dass es eine UN-Resolution 1244 gibt in welcher eine Autonomie des Kosovo verankert wurde, spielt in der aktuellen Außenpolitik keine Rolle.

Ein drittes Beispiel sei angeführt. 2014/2015 gab es zwischen der Ukraine und den ostukrainischen Gebieten Verhandlungen über eine Autonomie dieser Gebiete. Garanten der Umsetzung der entsprechenden Abkommen waren Frankreich, Deutschland und Russland. Bezeichnet wurden die Abkommen als Minsk I und II. 8 Jahre später haben wir das 2. Jahr Krieg in der Ukraine, jedoch niemand verweist darauf, dass es bereits eine Lösung für das Problem gibt. Gut, Poroschenko und Hollande sowie Merkel haben 2022 zugegeben, dass es bei den Abkommen darum ging der Ukraine „Zeit zu geben“. Was andererseits erklärt, warum es bis heute keine politische Lösung gibt.

In allen 3 Fällen ging es um Autonomiebestrebungen eines (Teil-)Volkes, was durch das UN-Völkerrecht gedeckt ist.

Da es auch heute noch politisch handelnde Personen gibt, welche sowohl damals eine wichtige politische Rolle in den jeweiligen Ländern gespielt haben als auch an den Vertragsverhandlungen beteiligt waren, verneine ich für mich ein fehlendes historisches Gedächtnis dieser Personen. Was aber dazu führt, dass wir aktuell von den Folgen der zweckoptimierten Vergesslichkeit betroffen sind. Diese Betroffenheit reicht bis in den kommunalen oder sogar persönlichen Bereich. Da möge Sülzhayn, Werther oder aktuell Bleicherode nur die Spitze des Eisberges sein.

Gegen ein fehlendes historisches Gedächtnis kann jeder etwas tun, lesen. Mir fallen da spontan Peter Scholl-Latour, Gabriele Krone-Schmalz oder Jacques Baud ein. Nicht zu vergessen Frieder Wagner, wenn es um die Folgen der Anwendung von Uranmunition im Irak, Jugoslawien oder Afghanistan geht.
Vielleicht braucht es aber erst wieder eine Erkenntnis wie sie Erich Maria Remarque in seinem Buch „Im Westen nichts Neues“ niedergeschrieben hat: „Die letzten zehn Jahre hat man uns die Ohren so mit Propaganda vollgetrommelt, daß es schwer war, etwas anderes zu hören. Besonders das nicht, was keine lärmende Stimme hat. Den Zweifel und das Gewissen.“. Aus meiner Sicht sind davon vier Jahre schon wieder vorbei.

In diesem Sinne, (verstehendes) Lesen bildet nicht nur, es lässt eigene Meinungen entstehen.
Alexander Rathnau