nnz-Exklusivinterview mit Landrat Jendricke zur Migrationskrise

„Ich werde von Linken und Rechten angegriffen“

Montag
30.10.2023, 07:00 Uhr
Autor:
osch
veröffentlicht unter:
Nächtliche Flüchtlingstransporte durch Nordthüringen, Gerüchte über Busse auf dem Bebelplatz, aufgebrachte Bürger und Ukrainer, die in Arbeit und in Wohnungen gebracht werden müssen. Die Lage ist äußerst angespannt. Die nnz sprach mit Landrat Matthias Jendricke über die aktuellen Migrationsprobleme im Landkreis Nordhausen …

Steht der Landrat in der rechten Ecke? Aufklärungsversuche im Interview (Foto: nnz Archiv) Steht der Landrat in der rechten Ecke? Aufklärungsversuche im Interview (Foto: nnz Archiv)

nnz: Die Emotionen gehen hoch in der Flüchtlingsfrage. Wie schätzen Sie die gesamte Entwicklung aktuell ein?
Matthias Jendricke:
Die Überforderungssituation im Bereich der Unterbringung beim Land und den Kommunen hat aktuell gar nicht die Ursache in den vermeintlich extrem hohen Ankunftszahlen in diesem Jahr, sondern ist der Auslastung der Gemeinschaftsunterkünfte und des Mietmarktes aufgrund der hohen Ankunftszahlen aus dem letzten Jahr geschuldet. Im letzten Jahr kamen über eine Million Menschen in ganz Deutschland an und 90 Prozent davon Ukrainer. Für Thüringen waren das 2022 nicht ganz 40.000 Flüchtlinge und dieses Jahr stehen wir nur bei rund 13.500 Personen (Stand Mitte Oktober), wovon rund 7.000 Asylbewerber sind und die andere Hälfte Ukrainer. Die Ankunftszahl des Jahres 2023 hätten wir alle sonst normal mit unseren Ressourcen hinbekommen.

Die Landesregierung spricht bei der Belegung von Ukrainern in Gemeinschaftsunterkünfte (GU) inzwischen von Fehlbelegung. Warum?
Fehlbelegung bedeutet: es wohnen in den GUs Personen, welche nicht Asylbewerber sind. Seit dem 1. Juni 2022 trifft dies auf alle Ukrainer zu, da sie ja dann per Gesetz alle Bürgergeldempfänger wurden und nicht mehr zum Asylbereich zählen. Wir haben derzeitig zehn unterschiedlich große GUs mit rund 800 Plätzen und davon sind rund 200 mit ukrainischen Staatsbürgern belegt. Diese Personen finden selbst keine Wohnung und wir als Behörde finden auch keine mehr. Die Landräte in ganz Thüringen könnten eigentlich sagen - weil das Problem haben viele andere Kollegen auch -, wir setzen die Personen vor die Tür und geben einfach den Bürgermeistern Bescheid. Denn die Landkreise sind nur für Asylbewerber zuständig. Für die Abwendung von Obdachlosigkeit aller anderen Personen sind die Ordnungsbehörden der Gemeinden zuständig. Das machen wir aber nicht, weil dies nur zu Ärger mit den Kommunen führen würde. Aber es wäre natürlich schön, wenn einige Bürgermeister verstärkt nach Wohnraum für die Ukrainer in ihren Gemeinden suchen würden, denn es hilft ihnen ja auch bei der Erhöhung ihrer Einwohnerzahlen.

Sie haben sich bereits mehrfach deutlich gegen die unkontrollierten Migrationsströme ausgesprochen. Wie beurteilen Sie die derzeitige Situation jetzt?
Also erstmal muss man feststellen, dass es im Gegensatz zu 2015 nicht mehr unkontrolliert läuft. Wir erfassen heute zu allen Personen die Daten und Fingerabdrücke und gleichen diese Daten auch ab. Hier hat sich schon viel verbessert. Meine Meinung zu den nachfolgenden Problemen hat sich aber nicht geändert. Die Ukrainer sind hier gern willkommen, aber ich will sie hier arbeiten sehen und nicht als Einwanderer in unsere Sozialsysteme oder ganz und gar als Pendler zwischen ihrem Heimatland und unserem Landkreis. Und ebenso im Asylbereich: wer hier arbeitet, seine Kinder ordentlich in die Schule bringt und sich auch sonst anständig benimmt, kann gerne hier bleiben. Und alle anderen sollten wir wieder abschieben, damit wir uns nicht mit Problempersonen beschäftigen müssen.

Mitunter wird Ihnen vorgeworfen, Ihre Positionen ähnelten denen der AfD. Wie sehen Sie das?
Derzeitig bin ich nah bei meinem Kanzler, denn er hat nun endlich gesagt, dass wir mehr abschieben müssen. Und ja, das sage ich schon lange und wenn das Land oder der Bund mehr Flugzeuge in die speziellen Länder organisieren würde, bringen wir als Gebietskörperschaft die Ausreisepflichtigen auch gern zum Flughafen. Ansonsten bin ich beim Migrationsthema einfach kein Träumer und werde von Rechts wie Links angegriffen. Wenn ich seit Jahren die Unterbringung in GUs favorisiere, dann hält man mir vor, warum ich den Flüchtlingen keine eigene Wohnung gönne. Letztes Jahr bekam ich deshalb ja bekanntlich den Negativpreis des Thüringer Flüchtlingsrates, weil ich mehr GUs im Land fordere und die Wohnungsunterbringung für neu ankommende Flüchtlinge ablehne. Im Gegensatz zur AfD mache ich aber immer klar, dass wir Zuwanderung in unser Land und den Arbeitsmarkt brauchen. Und wenn die Menschen hier sind, werden sie geordnet untergebracht und wir behandeln Sie ordentlich.

Im Internet wurde verbreitet, dass die neu angekommenen Flüchtlinge in Bleicherode gleich den Norma nebenan ohne zu bezahlen verlassen haben. Welche Erkenntnisse liegen Ihnen dazu vor?
Nach mir vorliegenden Informationen stimmt das nicht, aber der Vollzugsdienst wird dies noch einmal konkret ermitteln. Sollte es sich um Falschbehauptungen handeln, so werden wir dazu Strafanzeigen stellen. Überhaupt ist es mal wieder so, dass die Einrichtung von außen bedroht wird. Schon in der ersten Nacht musste ich mich mit der Polizei verständigen, weil es zu zahlreichen Drohaufrufen in den sozialen Medien kam. Dieses unsägliche und zugleich strafrechtliche Verhalten Einzelner müssen nun die Strafverfolgungsbehörden bearbeiten. Wenn sich die Täter genau feststellen lassen, dann werden wir diesen Leuten auch die Kosten des zusätzlichen Wachschutzes in Rechnung stellen. Es gilt für unser Handeln: Der Rechtsstaat gilt für Deutsche und Asylbewerber gleichermaßen.

War die zusätzliche Einrichtung in Bleicherode am Donnerstag denn wirklich notwendig?
Ja, denn es ist bekannt, dass wir keine Plätze für weitere 35 Personen mehr haben und sonst andernfalls eine Turnhalle zur Unterbringung hätte nutzen müssen. Den Bus kann ich auch nicht einfach abweisen oder zurückschicken, wie einige fordern. Nach der Verteilungsliste des Landes war unser Kreis Mitte Oktober mit 123 Personen im Minus. Dann läuft das Verteilverfahren eben so ab, dass wir 4,2 Prozent der in Thüringen ankommenden Flüchtlinge aufnehmen müssen. Die Prozentzahl ist je nach Größe der Landkreise unterschiedlich, aber auch der neue AfD-Landrat in Sonneberg bekommt seine Busse zugeteilt. Also zu behaupten, man müsse einfach mal AfD wählen und dann kommen keine Flüchtlinge mehr, ist Unsinn.

Kommen denn noch weitere Flüchtlinge nach Bleicherode?
Die neue Einrichtung war bisher ein Bürobereich und ist noch nicht fertig eingerichtet, soll aber perspektivisch für rund 60 Leute ausgestattet werden. Wir haben das Objekt erst am Donnerstag per Vertrag angemietet und dann sehr kurzfristig provisorisch hergerichtet. Vermutlich kann dort noch ein weiterer Bus mit 30 syrischen Flüchtlingen hin. Aber wir halten den Standort dort im Gewerbegebiet in Bleicherode Ost auch für die nächsten Jahre geeignet und würden bei zurückgehenden Fluchtzahlen eher dann wieder die bestehende GU in Wipperdorf auf Standby setzen.

Und wenn alles so weitergeht wie bisher? Ein anhaltender Zustrom von Asylbewerbern und dazu die jetzt schon latente Wohnungsnot, wie soll das funktionieren?
Die Wohnungsbauunternehmen, wie die SWG in Nordhausen, erhöhen den Wohnungsbestand und bauen wieder neue Wohnungen oder sanieren ungenutzte Altbauten, ansonsten müssen wir im neuen Jahr weitere Gebäude suchen. Oder der Landkreis muss in Nordhausen eine neue GU für rund 400 Plätze bauen. Nichtstun bedeutet ins Chaos laufen und gegebenenfalls den Schulen die Turnhallen wegnehmen. In anderen Landkreisen war die Turnhallenbelegung ja schon üblicher Standard, aber wir haben es aufgrund besserer Vorhaltung bisher vermeiden können und so soll es aus meiner Sicht auch möglichst bleiben.

In den sozialen Netzwerken kursierte die Nachricht, dass auf dem Nordhäuser August-Bebel-Platz am Samstagabend zwei weitere Flüchtlingsbusse angekommen sind. Stimmt das und werden die Asylbewerber nun quasi heimlich verteilt?
Ich wurde über diese fake news noch am späten Abend unterrichtet und habe es im Netz sofort dementiert. Teilweise bekam ich dazu bis zum Sonntag noch Beschimpfungen, weil ein paar Besserwisser immer noch mehr Geschichten dazu erfunden haben. Also noch einmal, wir verstecken hier nachts keine Menschen in der Stadt und am Wochenende kommen bisher auch keine Busse an. Dieses Jahr sind rund 300 Asylbewerber in unseren Landkreis gekommen, dazu weitere Ukrainer. Insgesamt leben nun seit dem Kriegsbeginn etwa 2.000 geflüchtete Ukrainer hier und rund 180 haben wir wieder abgemeldet, weil sie nicht dauerhaft hier waren.

Zur weiteren Vorgehensweise und Platzkapazität in Sülzhayn gab es in letzter Zeit widersprüchliche Aussagen zwischen Ihnen und der Thüringer Migrationsministerin. Klären Sie uns doch bitte über den tatsächlichen Sachverhalt auf.
Wie die zuständige Migrationsministerin schon im MDR angekündigt hat, bekommt der Landkreis Nordhausen für 250 Plätze zusätzliche Mittel zum Ausbau der GUs. Diese Investitionsmittel werden genutzt, um in den zwei bestehenden GUs in Sülzhayn geordnete individuelle Wohnbereiche auszubauen. Es werden dort also nur bestehende Plätze ausgebaut, so dass es keine Massenbelegung mehr in den früheren Klassenzimmern geben wird. Im Übrigen sind die beiden Objekte die einzigen in Thüringen die auch barrierefrei sind und somit werden wir dort auch weiterhin Menschen mit Handicap aufnehmen. Die Umbaumaßnahmen werden vermutlich zwei Jahre andauern, was die Belegung zudem einschränken wird. 

Wird wie versprochen ein weiteres Bürgergespäch mit der Ministerin in Sülzhayn stattfinden?
Ja, die Ministerin steht zu ihrem Wort und will kommen. Der Termin wird gerade konkret abgestimmt und vermutlich Mitte November angesetzt. Im Grunde liegt es zurzeit an meinem Terminplan, weil ich diese Woche zu einer OP ins Krankenhaus muss und erst danach wieder Termine freischalten kann. 

Dann wünschen wir gutes Gelingen und bedanken uns für das Gespräch

Für die nnz führte Olaf Schulze das Interview mit dem Landrat.