Nordhausen Zusammen auf dem Rathausplatz

Geschichte begreifen, für die Zukunft handeln

Sonnabend
23.09.2023, 16:07 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
Das Nordhäuser Wahlergebnis von vor zwei Wochen hat in der Stadt viel aufgewühlt. Mit Sorge blickt ein Teil der Bürgerschaft auf einen möglichen Sieg des AfD-Kandidaten, hat aber die Hoffnung, dass Ruder doch noch rumzureißen, nicht aufgegeben. Unter dem Motto „Nordhausen Zusammen“ lud man heute auf den Rathausplatz…

"Nordhausen zusammen" auf dem Rathausplatz (Foto: agl) "Nordhausen zusammen" auf dem Rathausplatz (Foto: agl)


Innerhalb von etwas unter zwei Wochen ein Fest auf die Beine zu stellen, ist keine leichte Sache. Seit dem letzten Wahlsonntag habe man kaum ein Auge zu getan, sagen Stefanie Tiepelmann-Halm und Alexander Scharff, die für das eilig zusammengeschmiedete Bündnis „Nordhausen Zusammen“ auf dem Rathausplatz heute auf und hinter der Bühne die Organisation übernommen haben.

Das allzu deutliche Ergebnis des Urnengangs mit einem klaren Vorsprung für den Kandidaten der AfD hat scheinbar so manchen wachgerüttelt, denn der Platz ist voll. Die Polizei spricht am Nachmittag, kurz vor drei Uhr, von knapp 450 Teilnehmern, die Organisatoren wollen eher 800 gezählt haben. Die Wahrheit wird, wie so oft bei diesen Dingen, wohl in der Mitte liegen.

Wäre der Anlass ein anderer, dann würde hier ein kleines, ruhiges Fest gefeiert, mit Kuchen, Kaffee, Musik, Gesang, Waffelduft und Seifenblasen. Was die Menschen hier zusammengebracht hat, ist aber nicht die Unterhaltung sondern die Sorge. Die Sorge vor einem „blauen Nordhausen“. Über 40 Prozent hat der Kandidat der AfD Jörg Prophet im ersten Wahlgang erhalten, der Amtsinhaber Kai Buchmann hat es mit knapp unter 24 Prozent in die Stichwahl geschafft. Die Entscheidung, wer Nordhausen an der obersten Position der Stadt vertritt, fällt morgen.

Prof. Dr. Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstätte Mittelbau-Dora (Foto: agl) Prof. Dr. Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstätte Mittelbau-Dora (Foto: agl) Ein Sieg der AfD käme für viele auf dem Platz einer Katastrophe gleich, auch für Jens-Christian Wagner, den Leiter der Gedenkstätte Mittelbau-Dora. Man hält hier viele Kontakte nach ganz Europa und darüber hinaus. In den letzten beiden Wochen hat man manch erschütterte Nachricht erhalten. Jahrzehntelange Arbeit der Versöhnung und des Vertrauens drohten zu zerbrechen, mahnt Wagner. Die Kinder Jean Mialets sind unter denen, die sich wundern was in Nordhausen passiert. Der Vater war Dora-Häftling, Vertrauter de Gaulles und eine kräftige Stimme in Frankreich, die im Staatsakt zu Grabe getragen wurde. Der Vater wäre entsetzt, wenn er noch miterleben müsste, dass eine Partei davor steht, in das Nordhäuser Rathaus einzuziehen, die die Geschichte am liebsten umschreiben würde, schreiben die Nachfahren. Und so blicken viele Augen in diesen Tagen auf die kleine Stadt im Südharz, die Wahl hat es nicht nur in die überregionalen Nachrichten geschafft, sondern findet internationale Aufmerksamkeit.

Einen Nazi wolle er Jörg Prophet nicht nennen, so Wagner weiter, aber sein Gedankengut zeige etliche Überschneidungen mit dem der Nationalsozialisten, die Standpunkte seien für jeden im Netz nachzulesen. Wer den amerikanischen Befreiern der Konzentrationslager „Morallosigkeit“ vorwerfe, die Bombenangriffe auf Dresden mit Auschwitz gleichsetzte und von einem „Schuldkult“ fabuliere, wer sich just hier auf dem Rathausplatz vom „allerrechtesten Rand“ der Partei unterstützen lasse, der sei „kein sachorientierter Realpolitiker“. Die Gefahr sei, dass die AfD von vielen nicht trotz sondern gerade wegen solcher Standpunkte gewählt werde. „Es ist etwas ins rutschen geraten in unserer Gesellschaft. Der ethische Konsens der uns als Leitfaden gedient hat, wurde von der AfD zu Gunsten nationalistischer Ressentiments aufgekündigt.“, sagt Wagner, wer für die Zukunft handeln wolle, der müsse die Vergangenheit begreifen, nicht sie umschreiben.

Das Bündnis hat noch mehr Stimmen gesammelt, viele per Videobotschaft. Darunter der ehemalige Nordhäuser Pfarrer Peter Kube und sein amtierender Kollege aus dem Dom, Pfarrer Steffen Riechelmann, Migranten die seit Jahrzehnten den Stadtalltag prägen, Kriegsflüchtlinge die in Nordhausen Hoffnung gefunden haben, Junge und Alte, bekannte Einheimische Gesichter, Menschen von der Straße und einige Prominente.

Gemeinsam feiern will man noch bis in die Abendstunden, besondere Vorkommnisse waren bis zum Nachmittag nicht zu verzeichnen. Ob sich das Blatt noch wendet oder hier nur das letzte Aufbäumen vor der blauen Welle zu sehen war, wird sich morgen an der Wahlurne zeigen.
Angelo Glashagel