Zugehört

"Kein Wohlfühlbuch"

Freitag
01.09.2023, 10:59 Uhr
Autor:
psg
veröffentlicht unter:
Bis fast auf den letzten Platz besetzt war am Donnerstagabend der Ratssaal im Nordhäuser Bürgerhaus. Kein Wunder, denn ein aktueller Bestseller-Autor kam, las und diskutierte mit den Zuhörern...

Dirk Oschmann bei seiner Lesung in Nordhausen (Foto: nnz) Dirk Oschmann bei seiner Lesung in Nordhausen (Foto: nnz)
Prof. Dirk Oschmann, geboren 1967 in Gotha, ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig. Er hat es als Ossi geschafft, aus eigener Kraft. Das muss schon mal gesagt werden, denn für einen weißen Mann aus Ostdeutschland war und ist es nicht einfach, eine Professur und damit eine Lebensstellung im geeinten Deutschland zu erreichen.

Wer mit Teil der Oschmann-Generation ist wie ich, der muss dies vermutlich sein restliches Leben lang als Einleitung schreiben, denn genau darum geht es in diesem Buch "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung". Sind wir die Jammerossis? Sind wir benachteiligt? Wo wir uns doch die Demokratie erkämpft haben und nicht geschenkt bekamen. Haben wir nicht die stärkeren Erfahrungen, beginnend mit einer Diktatur (manche aus zwei), dann Revolution, Umsturz, Basis-Demokratie (Runde Tische) und dann endlich Demokratie?

Oschmann bombardiert die Zuhörerinnen und Zuhörer zuerst mit Zahlen, die wir alle doch schon mal irgendwo gehört und gelesen haben und die dennoch schockieren: Zum Beispiel, dass 90 Prozent des privaten Wohneigentums in Leipzig Menschen gehören, die im Westen geboren wurden. Oder: dass nur 1,7 Prozent der staatlichen, wirtschaftlichen, parteilichen Spitzenpositionen mit Menschen besetzt sind, die zwischen Rügen und Chemnitz geboren sind?

Das sind keine abstrakten Fakten, die kann ich in Nordthüringen ebenso aufzählen: Wie viele Polizeichefs gab es aus dem Osten, wie viele Chefs der Amtsgerichte oder des Landesgerichts, der Staatsanwaltschaft, der Arbeitsagentur? Wie viele Leiter der Hochschule in Nordhausen kamen bislang aus den neuen Bundesländern? Ja selbst zwei der sechs Kandidaten für die Neubesetzung des OB-Stuhls in Nordhausen haben eine westdeutsche Sozialisierung hinter sich gebracht. Der eine Stefan Marx, Richter, klar: langjähriger Chef des Arbeitsgerichtes in Nordhausen. Der andere erdreistet sich von Weimar aus die Geschicke dieser Stadt lenken zu wollen. Könnten Sie sich vorstellen, dass ein Nordhäuser in Kassel von einer Partei zur Wahl eines kommunalen Spitzenamtes geschickt würde? Und wir in Thüringen lassen uns jede Menge politisches Spitzenpotential aus dem Westen bieten?

Selbst Oschmann kann sich nicht vorstellen, dass selbst in 100 Jahren ein Mensch aus dem Osten Rektor der Universitäten in Heidelberg oder in München wird. Und er hat die Antwort: Die vorhandenen westdeutschen Systemeliten rekrutieren sich aus sich selbst, den Osten brauchen sie nicht, der würde nur stören.

Als er damit anfing zu schreiben, habe er bei den ersten Seiten gezittert. Er wolle dieses Werk nicht als Sammlung altbekannter Fakten abliefern, nein, er wollte einen anderen Ton darin unterbringen. Ja, der Ton soll wütend machen und dazu anregen nachzudenken, warum dass so ist? Warum im Osten weniger verdient wird, warum das mit der Besetzung von Spitzenpositionen so ist?

Wir, die Ossis, sind der Teil der Deutschen, die über die 30jährige Umwälzung unseres Leben nun tatsächlich "transformationserschöpft" sind. Für die Menschen im Westen lief doch eigentlich alles so weiter wie bisher. Ein Fünftel waren noch nie im Osten, die Medien (lokales und regionales mal ausgenommen) haben keinen Bock auf Nachrichten aus dem Osten. Es sei denn, irgendetwas muss vermeldet werden, was in Verbindung mit der AfD steht.

Und aus all dieser Gemengelage heraus haben die Menschen zwischen Elbe und Oder eine besondere Antenne und Sensibilität und ihr Widerstand gegen die aktuelle Politik wird größer. Außer, dass der Euro für Menschen in Zittau gleichermaßen gilt wie für die in Stuttgart, sind die Unterschiede gravierend.

Er wollte mit seinem Buch all dies noch provozierender darstellen, es sollte von Anfang an kein "Wohlfühlbuch" werden. Vielleicht ist es deshalb so erfolgreich geworden. Doch irgendwann, ich glaube Oschmann weiß das auch selbst, wird der Betrieb im deutschen Land weitergehen. Oder: die aktuelle Transformation der Gesellschaft, wie es die "Ampel" nennt, erfasst auch die "Wessis" mit einer Wucht, die sie bis dato nicht kannten. Ansätze dazu sind bereits vorhanden.

Oschmann diskutiert mit Zuhörern (Foto: nnz) Oschmann diskutiert mit Zuhörern (Foto: nnz)
Im Anschluss an die Lesung konnten Fragen gestellt werden. Zum Beispiel wie er, Oschmann, dazu steht, dass eine Wahl rückgängig gemacht werden sollte? "Keine Ahnung", so seine Antwort. Wie er sich die Zukunft dieses ganzen Landes vorstelle? "Sie werde nicht einfach." Und natürlich musste von offizieller Seite aus dem Auditorium wieder daran erinnert werden, dass es ja in Thüringen auch Nazis gebe. Dazu antwortete Oschmann historisch: Gleich nach der Wende sahen rechtsextreme Bewegungen aus Bayern einen neuen "Markt" in Thüringen und Sachsen und nutzten dafür ihre vorhandenen Netzwerke und Ressourcen. So konnte sich das Rechtsextreme, das nachweislich nicht nur aus dem Oste kommt, dort gut gedeihen. Das Pikante daran, die Spitzenpositionen des Verfassungsschutzes in Sachsen seien durchweg von Beamten aus dem Westen, vorzugsweise aus Bayern besetzt gewesen. Übrigens: der aktuelle Präsident heißt Dirk-Martin Christian und wurde wo geboren? Die Antwort lasse ich offen...
Peter-Stefan Greiner