Angemerkt

Unter Unverstandenen

Mittwoch
23.08.2023, 17:00 Uhr
Autor:
psg
veröffentlicht unter:
Haben Sie das auch schon mal gehört oder gedacht: „die da oben, da in Berlin, die leben doch sowieso in einer anderen Welt“? Sind das nun Vorurteile oder Gerüchte? Ich habe mir dazu schon länger eine Meinung gebildet, die gestern wieder bestätigt wurde. Leider…

Carsten Schneider gestern zu Gast in Nordhausen (Foto: nnz) Carsten Schneider gestern zu Gast in Nordhausen (Foto: nnz)
Wir hier in Nordthüringen, wir sind der Osten. Nicht nur geografisch, sondern auch politisch. Wir sind anders als die anderen, wählen mit wachsender Vorliebe AfD und sind renitent, wenn es um Dankbarkeit in Richtung Politik geht. Und deshalb braucht der Osten einen Beauftragten, der sich kümmert. Mittlerweile gibt es ja für fast alles Beauftrage der Bundesregierung. Um genau zu sein – es sind fast 50. Zum Beispiel für maritime Wirtschaft und Tourismus, für die Informationstechnik oder für Antirassismus.

Und den Staatsminister für Ostdeutschland. So der offizielle Titel von Carsten Schneider, wie er gestern den Vorständlern des NUV zu verstehen gab. Die wiederum wollten mit Schneider, der aus Erfurt stammt und seit seinem 22. Lebensjahr nach Ausbildung und den in einer Jugendherberge abgeleisteten Zivildienst im Deutschen Bundestag politisch arbeitet, ins Gespräch kommen. Mittlerweile lebt er mit seiner Familie in Potsdam, wird aber in beständiger Regelmäßigkeit auf der Thüringer Liste für den Bundestag aufgestellt und damit für die nächsten vier Jahre Leben und Arbeiten und Potsdam/Berlin abgesichert.

Das sei ihm durchaus gegönnt, doch die Frage sei erlaubt, ob er noch „fühlen, sehen, riechen oder schmecken kann“, wie es sich lebt da unten in Thüringen? Welche Probleme die Menschen bewegen, wie sie mit der aktuellen Situation zurechtkommen? Wie sie die Kosten für Energie stemmen oder das tägliche Pendeln zur Arbeit an der Tankstelle finanzieren sollen?

Gestern wurde es mir wieder klar: Er kann es nicht, vielleicht will er es auch nicht (mehr)? Er, der Beauftragte für Ostdeutschland, sieht das Land in eine Art Depression fallen. Er, der Staatsminister, meinte, dass auch in Nordhausen die Wirtschaft auf ziemlich hohen Niveau jammere, denn schließlich habe man 12 Jahre des Aufschwungs hinter sich und so eine klitzekleine „technische Rezession“ sei doch kein Grund in Panik zu verfallen und – AfD zu wählen. Mittlerweile wurden während der Gesprächsrunde mit dem NUV-Vorstand zwischen Tischnachbarn schon mal Wetten abgeschlossen, wie vieler Sätze es bedurfte, ehe vor der böse AfD gewarnt werden musste.

Die Wählbarkeit dieser bösen Rechtsextremen sei in dieser Deutlichkeit ein Problem des Ostens, trug der Staatsminister allen Ernstes vor. Die Gesprächspartner sahen sich staunend an, habe er denn nicht die bundesweiten Umfrageergebnisse der AfD zur Kenntnis genommen? Etwas schmallippig nahm Carsten Schneider zur Kenntnis, was ihm sein Parteigenosse und Freund Matthias Jendricke zum Thema Migration vortrug. Der Landrat schlug unter anderem für die ukrainischen Flüchtlinge vor, dass jenen, die nach einem Jahr ihres Aufenthaltes keine Arbeit annehmen (obwohl sie es könnten), die sozialen Leistungen empfindlich zu kürzen seien. Von allen NUV-Vorständlern kam nicht nur wohlwollendes Kopfnicken, sondern zugleich auch massive Kritik am Bürgergeld und an der geplanten Kindergrundsicherung, die dann „Kindergeld Plus“ sei.

Ja, Herr Schneider, das sind einige der wahren Probleme, die Menschen in der Welt umtreiben, in der sie die ersten 22 Jahre lebten. Jetzt in Berlin, da ist das anders. Ich war schon ein bisschen froh, dass das alles überwabernde Thema der Migrationsproblematik gestern nicht auch noch angesprochen wurde. Dann hätte es ein wirklich unschöner Nachmittag für sie werden können.

So aber genoss der Genosse noch ein Sommerfest mit den Genossinnen und Genossen. Dann ging es vermutlich wieder nach Potsdam oder Berlin und vielleicht hat auf dem Rückweg auch der Bundeskanzler wieder angerufen. Zurück also in eine Welt, mit der man vertraut ist, die man auch nicht mehr verlassen möchte. Nur mit dem Vertrauen ist das so eine Sache. Zwischen Menschen ist das keine Einbahnstraße, es gibt dafür keinen Automatismus. Vertrauen kann gewonnen und es kann entzogen werden und dann wird es nicht nur bitter, dann kann es auch in Depressionen ausarten.

Das alles wollen wir nicht. Schaue ich mir tagtäglich jedoch das an, was Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen da in Partei und Regierung so von sich geben, dann wünschte ich mir, dass es vielleicht, eventuell zu einer (Kern)fusion der beiden Welten kommen sollte. Schließlich erwächst daraus wieder eine neue Energie.
Peter-Stefan Greiner