nnz-Betrachtung

Der Weg des geringsten Widerstandes

Dienstag
27.06.2023, 14:39 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
Was einst als ferne Zukunft galt, ist in den letzten Jahren erschreckend schnell Realität geworden. Wir stehen vor enormen Herausforderungen, doch im Land befasst man sich auf allen Seiten lieber mit Nichtigkeiten und leeren Handlungen. Das muss ein Ende haben...

Die Welt im Jahr 2050 - ein Symbolbild innerhalb von fünf Minuten mittels frei verfügbarer KI erstellt. Die Qualität lässt noch zu wünschen übrig aber leistungsfähige Algorithmen wie "Midjourney" lassen schon jetzt Realität und digitales Abbild verschwimmen (Foto: Stable Diffusion/agl) Die Welt im Jahr 2050 - ein Symbolbild innerhalb von fünf Minuten mittels frei verfügbarer KI erstellt. Die Qualität lässt noch zu wünschen übrig aber leistungsfähige Algorithmen wie "Midjourney" lassen schon jetzt Realität und digitales Abbild verschwimmen (Foto: Stable Diffusion/agl)


Nordhausen, irgendwann zu Beginn der 90er Jahre. Meine Kindheit. Das erste, eigene Schnurtelefon im Haushalt war der Höhepunkt technischer Unabhängigkeit, ein Zeichen der neuen Zeit, der erste PC der Familie, mit Double Speed CD-Rom Laufwerk und Turbo-Taste, High Tech vom Feinsten. Die Scheiben fassten ein paar mehr Megabyte als die alten Disketten, an das Internet war noch nicht zu denken, Kabelfernsehen gab’s nur bei den Großeltern. Das alles ist kaum mehr als 30 Jahre her.

Heute haben wir in der Redaktion über KI-generierten, fotorealistischen Bildern gesessen und gerätselt, welche wohl die Echten sein könnten. Die Praktikantin sitzt derweil da, und testet ob Chat GPT ihr einen passablen Text für einen Flyer ausspucken kann. Die Anfänge des angewandten, maschinellen Lernens liegen nicht einmal zehn Jahre zurück und den Kinderschuhen dürfte die „KI“ bald entwachsen sein. Wie sieht die Sache in fünf Jahren aus? In zehn? Allein in diesem Punkt steht die Welt im Allgemeinen und die uns umgebende Gesellschaft vor enormen Umwälzungen, die nicht allein wirtschaftlicher sondern auch sozialer Natur sein werden. Ein Bild, ein Video, eine Tonaufnahme sind nicht länger glaubwürdige Abbilder der Realität und die Unterschiede von echt und unecht zu erkennen, wird zunehmend schwieriger.

Geben wir nun noch eine kräftige Prise Klimawandel dazu, gepaart mit geopolitische Unwägbarkeiten, heraufziehenden Konflikten und einem ganzen Netz an komplexen, globalen Interdependenzen hinzu. Der Mantel der Zeit, er weht nicht vorbei, er stürmt über uns hinweg. Stellt sich die Frage, ob wir in der Lage sind zuzupacken oder hinfort geweht werden. Ich bin da eher pessimistisch.

Von Klimaklebern und Konservativen
Enorme Herausforderungen also. Wie reagieren wir als Gesellschaft? Indem wir uns Nichtigkeiten zuwenden, kleinen Kämpfen und Siegen, von denen sich zehren lässt. „Klimakleber“ und Konservative gehen da den gleichen Weg, den des geringsten Widerstandes. Auf den ersten Blick mag das hohl klingen, schließlich widersetzt man sich ja sehr wohl, die einen suchen Öffentlichkeit durch Protest aus ihrer Furcht vor dem Klimakollaps des Planeten, die anderen stemmen sich gegen den stetig voranschreitenden Zeitgeist und all das, was dem eigenen Sinne nach schief läuft in der Gesellschaft.

Die Gedankengänge bedürften ein wenig Erläuterung und begonnen werden soll bei denen, die man Allgemeinhin als progressive Kräfte bezeichnen dürfte. Frauenwahlrecht, Entkriminalisierung von Homosexualität, sexuelle und körperliche Selbstbestimmung, mehr Gleichberechtigung unabhängig von Herkunft, Religion und Geschlecht - in den letzten einhundert Jahren haben sich hier regelrechte soziale Revolutionen ereignet und manch altes Denken wurde in weiten Teilen der Gesellschaft tatsächlich abgelegt. „Jeder nach seiner Fasson“, dem alten friderizianischem Leitsatz der Aufklärung ist man recht nahe gekommen. Man hat Höhen des gesellschaftlichen Wandels erreicht, die vor einhundert Jahren noch undenkbar waren. Neue Gipfel zu erklimmen und greifbaren Wandel herbeizuführen wird nun aber zusehends schwieriger. Wie kann die Gesellschaft noch toleranter, noch aufgeklärter, noch gleichberechtigter werden? Schon das simple und einleuchtende Ziel von gleichem Lohn für gleiche Arbeit versucht man seit Jahren zu erreichen und es geht nur noch langsam voran. Die Schritte sind kleiner geworden, die Gewinne marginaler.

Im Angesicht größerer Herausforderung und schwer zu überwindender Hindernisse sucht sich der Mensch, ganz unabhängig der politischen Einstellung, gerne leichtere Ziele. Im Sinne der Gleichberechtigung mag das die Anpassung der eigenen Sprache sein. Der Effekt ist um einige Magnituden kleiner als das, was die Vorgänger erreicht haben, die Auswirkung geringer, vielleicht sogar kontraproduktiv, aber man tut wenigstens etwas, bleibt aktiv.

Ähnliche Überlegung lassen sich auch im Kampf gegen Umweltverschmutzung und Klimawandel anstellen. Vierzig Jahre lang hat die Umweltbewegung unermüdlich gekämpft, hat neue Standards errungen und die Gesellschaft tiefgreifend gewandelt. Nun aber steht man vor einer Wand, die unverrückbar scheint. Bankenkrisen, Klimagipfel und weltweiter Protest haben am Status Quo wirtschaftlicher Realitäten bisher wenig geändert und es sieht nicht so aus, als wäre zeitnah mit grundlegenden Umwälzungen zu rechnen. Die einen verabschieden sich in die Resignation, oder streicheln das Gewissen mit einer Änderung des eigenen Lebensstils, andere greifen zu drastischeren Protestformen - von Farbanschlägen auf Kunstwerke bis zum Kleberprotest auf dem Berliner Ring. Erreichen kann man wenig, die Schritte sind klein, die Siege marginal. Es ist leichter hier zu kämpfen, als sich gegen die Goliaths zu wenden. Bei BP, Shell und Saudi Aramco wird man nicht gehört, aber zu Hause, an den Empfangsgeräten und im Netz - da gibt es noch Reaktion, ob nun Spott und Häme oder Zuspruch ist erst einmal zweitrangig. Man bleibt aktiv, tut noch etwas. Der Sturm der Zeit tobt über uns, aber wir erhalten uns die Illusion der Handlungsfähigkeit.

Das gleiche Phänomen ist gerade in den Konservativen Kreisen dieses Landes zu beobachten. Das jüngste CDU Event in Nordhausen hat mir das vor Augen geführt, auch wenn die Veranstaltung an sich dem Zielpublikum gut gefallen haben dürfte. Die Chefetage der Partei hat es dann noch einmal bestätigt. Man pflückt lieber die tiefhängenden Früchte, als sich gegen eine See von Plagen zu wappnen und wirklich schwierigen Aufgaben zu stellen. Was den Aufklärern der Genderstern und dem Klimaprotestlern der Kleber ist, ist dem Konservativen scheinbar der Zeitgeist. Der ist dem Selbstverständnis nach links-rot-grün und für viele der Übel, die auf dem Land liegen, ursächlich. Also verlegt man sich auf Attacken gegen das „Gendern“ und die „Klimakleber“. Nichtigkeiten in Anbetracht der Herausforderungen, die vor uns liegen. Ein paar Menschen, dem Kindesalter kaum entwachsen, verursachen Stau auf Berlins Straßen, in der irrigen Hoffnung, dass sie damit nun endlich Gehör finden - daran arbeitet man sich ernsthaft ab und hofft noch ein paar Prozentpunkte mehr zu holen. Man schießt sich auf die Grünen ein und hofft so, die AfD in ihre Schranken zu weisen, wie Herr Merz es formulierte. Das ist nicht weniger irrsinnig, als sich auf die Straße zu kleben und zu glauben, es ändere etwas. Aber immerhin, man tut noch etwas, man bleibt aktiv, täuscht Handlungsfähigkeit vor, täuscht sich selbst.


Keine Lotsen in Sicht, nirgendwo
Die Kulmination dieser Betrachtungen ist Frustration, die so tief sitzt, das man schreien möchte. Das Schnurtelefon meiner Kindheit ist Geschichte, die Welt von damals ist lang vergangen. Allein der technologische Wandel, der sich in meiner Lebenszeit vollzogen hat, ist in seiner Tragweite schier unfassbar. Wir befinden uns mitten in einer der größten historischen Umwälzungen, der wir als Spezies je gegenübergestanden haben - von unserer Umwelt über die Technologie bis zum globalen Gefüge der Gesellschaften. Ein Goliath steht vor uns und wir ducken uns weg, suchen die kleinen Kämpfe und Erfolge.

Es gibt keinen Weg zurück in die „gute, alte Zeit“. Wer derlei Hoffnungen streut, verkauft nur Illusionen. Wir müssen nach vorne schauen, dazu gibt es keine Alternative. Es ist mir herzlich egal, ob sich jemand auf die Straße klebt, Teile der Gesellschaft Trost im gendern finden, der Nachbar weiter mit Inbrunst Diesel fährt oder Jan-Heinrich in Berlin Mitte ab sofort auf Fleisch verzichtet und das der Welt im allgemeinen im Netz mitteilt. Von dem nicht enden wollenden wehklagen und jammern der einen wie der anderen Seite kann ich mich nur entnervt abwenden. Das sind nicht die Probleme, die uns vor allem anderen Sorgen sollten. Jeder soll nach seiner Fasson selig werden. Aber damit das weiter möglich bleibt, müssen wir aufhören uns in Nichtigkeiten zu vergehen.
Angelo Glashagel