nnz-Dokumentation

Die Katastrophe ist nicht vergessen

Mittwoch
09.11.2022, 17:13 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
Am Nachmittag wurde in Nordhausen wieder der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 gedacht. Eröffnet wurde das Gedenken von Bürgermeisterin Alexandra Rieger, deren Rede wir hier im Rahmen unserer Dokumentationsreihe im Wortlaut veröffentlichen...

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Nordhäuserinnen und Nordhäuser, liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Vertreter der jüdischen Gemeinde,

wir stehen heute hier zusammen, um jener zu gedenken, für die vor 84 Jahren mit der so genannten „Reichskristallnacht“ ein Gang durch die Hölle begann, der im Tod endete. Der Mob setzte damals die Synagoge in Brand, zerrte Nordhäuserinnen und Nordhäuser aus ihren Wohnungen, quälte und demütigte sie, verschleppte sie in Lager. Aus nur einem Grund: Sie waren Juden.

Zum Gedenken an diese Opfer begrüße ich Sie sehr herzlich hier am Gedenkstein für die ehemaligen Nordhäuser Synagoge.

Für uns Nachgeborene sind die Ereignisse des 9. November 1938, die eine fürchterliche Zäsur auch in der Nordhäuser Stadtgeschichte darstellen, zeitlich sehr fern. Fast fünf Generationen liegen zwischen den Pogromen gegen die Juden und dem heutigen Tag. Dies ist eine lange Zeit. Doch die Katastrophe ist nicht vergessen! Sie ist uns präsent – und muss es sein und wird es bleiben. Auch deshalb stehen wir hier – zum Erinnern und zum Mahnen – und um Lehren zu ziehen als unsere Verantwortung für die Zukunft.

Aus diesem Grund ist es wichtig, gut und wertvoll, dass sich gerade Schülerinnen und Schüler unserer Stadt aktiv mit dem auseinandersetzen, was damals geschah. Sie taten und tun es auch heute mit der Mitgestaltung des Gedenktages, durch das Mitwirken an verschiedenen Stolperstein-Projekten und bei den jüngsten Projekten „last seen“ und „faces for the names“ Haben Sie vielen Dank dafür!



So schändlich, wie am 9. November 1938 die Nordhäuser Synagoge zunichte gemacht wurde, so feierlich war sie am 12. und 13. September 1845 eingeweiht worden: „In feierlicher Weise wurden die Thorarollen aus dem Bethause in der Ritterstraße in das neue Gotteshaus überführt. Bürgermeister Kölling und Landrat von Byhla sowie mehrere auswärtige Rabbiner nahmen an der Feier teil“ - so beschreibt der Rechtsanwalt und Notar Dr. Heinrich Stern in seiner Schrift „Geschichte der Juden in Nordhausen“ die Eröffnung und Einweihung der neuen Synagoge. Die Eröffnung des Gotteshauses – es war also ein großes gesellschaftliches Ereignis in Stadt und Region Nordhausen. Die jüdischen Bürger waren fest verankert in das Nordhäuser Gemeinwesen. Doch schon 93 Jahre nach der Eröffnung der Synagoge erlischt das jüdische Leben in Nordhausen abrupt und fürchterlich. Die 800-jährige Tradition des gemeinsamen Zusammenlebens von Christen und Juden ist damit zu Ende. Viele Nachbarn, die Vereinsfreunde, die Arbeitskollegen, der Arzt, der Lehrer … – sie waren plötzlich weg. Zu wenige aber trauten sich damals öffentlich zu fragen: Warum? Wohin? Weshalb keine Wiederkehr?

Sehr geehrte Damen und Herren, die Getöteten sind unser Vermächtnis.

Nordhausen hat sich stets aktiv mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt, hat sich der Aufarbeitung und Versöhnung gewidmet – bis heute. Und mit den erwähnten Projekten „last seen“ und „faces for the names“ und der öffentlichen Aufführung des Oscar-prämierten Filmes „Colette“ auf eine neue, unmittelbare und sehr konkrete Art und Weise. Dies gilt auch für die inzwischen mehr als 40 Stolpersteine auf den Gehwegen in unserer Stadt.

Damit lebt auch das Vermächtnis des jüngst verstorbenen Dr. Manfred Schröter fort, der ein Großteil seines Lebenswerkes dem Schicksal der Nordhäuser Juden widmete und an den ich an dieser Stelle erinnern möchte.

Lassen Sie uns der Toten gedenken, jener Menschen, die unschuldig ihr Leben lassen mussten.