Der Thüringer Innenminister Georg Maier hat angesichts der dramatischen Situation in Thüringen, die nach seinen Worten insbesondere durch eine sehr starke Belastung der intensivmedizinischen Versorgung geprägt sei, den Versammlungsbehörden eine Handreichung zum Umgang mit einer Versammlungslage gegeben…
Der weit überwiegende Teil der Bevölkerung in Thüringen, insbesondere diejenigen, die sich haben impfen lassen und in ihrem Alltag die geltenden Infektionsschutzregeln beachten, verhält sich verantwortungsvoll. Diese Mehrheit der Bevölkerung erwartet zu Recht von allen staatlichen Behörden die konsequente Anwendung und nötigenfalls auch Durchsetzung der geltenden Corona-Regelungen gerade im öffentlichen Raum, betonte Innenminister Georg Maier.
In einem Schreiben des Innenministers an die Versammlungsbehörden wird darauf hingewiesen, dass im Bereich der Versammlungen in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden ist, bei Demonstrationen gegen die pandemiebedingten Einschränkungen des öffentlichen Lebens würden die einschlägigen Versammlungsregelungen der jeweiligen Coronaverordnungen nicht gelten und die Behörden untätig neben den Protestierenden stehen.
Diesem Eindruck muss dringend durch konsequentes Handeln aller beteiligten Behörden, insbesondere der Versammlungsbehörden und der Polizei, entgegengewirkt werden. Laut dem SPD-Innenminister ist und bleibt das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit auch in Zeiten einer Pandemie ein elementares Grundrecht in einem freiheitlichen Rechtsstaat. Es müsse aber angesichts der aktuellen Lage verstärkt mit anderen Verfassungsrechten - dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und der Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens – abgewogen werden, heißt es in der Handreichung an die Versammlungsbehörden. Im Regelfall sind das die Ordnungsämter der Landkreise.
Und so sieht das Papier im Wortlaut aus:
Handreichung des Thüringer Ministerium für Inneres und Kommunales anlässlich der Versammlungslagen für den Monat Dezember 2021
Rechtliche Rahmenbedingungen für die Auflösung einer Versammlung nach
§ 19 ThürSARS-CoV-2-lfS-MaßnVO (im Folgenden CoronaVO) und § 15 Abs. 3 VersG
Tatbestandsebene: Feststellung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Versammlung
Rechtswidrigkeit der Versammlung, wenn:
- Teilnahme von mehr als 35 Personen (§ 19 Abs. 2 Satz 1 CoronaVO) oder
- Aufzugscharakter der Versammlung (§ 19 Abs. 2 Satz 1 CoronaVO) oder
- Keine Anzeige der Versammlung, aber zuvor Mobilisierung der Versammlung in sozialen Netzwerken (§ 19 Abs. 4 CoronaVO, § 15 Abs. 3 VersG)[1] oder
- Verstoß einer überwiegenden Anzahl der Teilnehmer gegen die Pflicht zum Tragen eines MNS (§ 19 Abs. 2 CoronaVO[2]) oder
- Verstoß gegen § 19 Abs. 1 Nr. 1, § 3 Abs. 2 und 3 CoronaVO:
- keine Feststellung einer verantwortlichen Person",
- Verantwortliche Person" stellt die Einhaltung der Infektionsschutzregeln des § 3 Abs. 3 CoronaVO nicht sicher oder
- Verstoß gegen §§ 4, 5 CoronaVO: kein Infektionsschutzkonzept vorhanden, kein Versammlungsleiter oder -Veranstalter, auch nicht in Form eines, ,faktischen Versammlungsleiters".
Rechtsfolgenebene/ Rechtsfolgen der Rechtswidrigkeit einer Versammlung
Grundsatz: Auflösung gern. § 15 Abs. 3 VersG unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und der Ausstrahlungswirkung des Grundrechts aus Art. 8 GG (ggf. weiterer Grundrechte und
Entscheidungskriterien: Recht auf Leben und Gesundheit für Versammlungsteilnehmer und Dritte, Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens, Meinungsfreiheit, Prognose über den weiteren Verlauf einer auf gelösten Versammlung, Folgenabwägung, polizeiliche Einsatzlage und Kräftesituation etc.)
Vor der Auflösungsentscheidung: Auflagen/Beschränkungen, sonstige Maßnahmen (sog. Minusmaßnahmen) als weniger eingreifende Maßnahme im Vergleich zur Auflösung bleiben ergebnislos.
Wichtig: Der bloße Verstoß gegen die Anzeigepflicht (s.o., sog. formelle Rechtswidrigkeit) rechtfertigt grundsätzlich nicht die Auflösung der Versammlung[3]. Hinzu kommen müssen weitere Verstöße.
Im Falle einer Auflösung: Entfernungspflicht der Teilnehmer, bei Aufzügen: Platz verweis gern. § 18 Abs. 1 ThürPAG[4]; bei stationären Versammlungen besteht Entfernenspflicht der Teilnehmer kraft Gesetzes, §§ 18 Abs. 1, 13 Abs. 2 VersG.
Auslegung der Ausnahmeregelung des§ 19 Abs. 5 CoronaVO
- Grundsätzlich nur anwendbar, wenn zuvor eine Anzeige/Anmeldung der Versammlung bei der zuständigen Behörde erfolgt ist.
- Begründung: Nur bei einer Anmeldung kann die zuständige Behörde im Einzelfall" prüfen und ggf., ,bewilligen", ob Ausnahmen aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar sind oder nicht.
- liegt keine Anzeige/Anmeldung vor, können die Voraussetzungen des§ 19 Abs. 5 CoronaVO grundsätzlich nicht von den Einsatzkräften vor Ort geprüft werden. Etwas anderes gilt im Ausnahmefall nur dann, wenn eine eindeutige Lageeinschätzung möglich ist und Ergebnis der Lageeinschätzung ist, dass die Einhaltung von strengen lnfektionsschutzmaßnahmen seitens einer Versammlungsleitung sicher gestellt ist.
- Die Ausnahmeregelung des § 19 Abs. 5 CoronaVO ist in jedem Fall restriktiv anzuwenden.