Kerzen für die Verstorbenen

Gedenken am 9. November

Mittwoch
11.11.2020, 18:12 Uhr
Autor:
emw
veröffentlicht unter:
Seit Jahrtausenden gedenken Menschen, gleichgültig in welcher Region unserer Erde, ihrer verstorbenen Angehörigen oder Freunde. Dabei sind die Rituale ganz verschieden. In unseren Breiten hat sich diese Kultur sehr verändert (Beerdigung unter Bäumen, anonym unterm „grünen Rasen“)...

Lichter für die Verstorbenen (Foto: Peter Zimmer) Lichter für die Verstorbenen (Foto: Peter Zimmer)


Wenn es aber über den Einzelnen hinaus geht, ergibt sich eine andere Dimension. Das vorige Jahrhundert hat uns das sehr deutlich gezeigt mit seinen zwei Weltkriegen, die Opfer in vielen Ländern gebracht haben und an deren Gräbern noch heute kollektiv gedacht wird.

Die schlimmste Tatsache ist aber der Versuch, eine gesamte Menschengruppe systematisch zu vernichten – und das durch das deutsche Volk. Beginnend durch das Mittelalter wurden Juden immer dann „zur Verantwortung gezogen“, wenn es Krisen gab. Ihren Höhepunkt erreichten diese Pogrome in der Nazizeit. Beginn war die „Reichspogromnacht“ am 9. November 1938 und endete erst mit Ende des Krieges 1945 und der Vernichtung von 6 Millionen Juden.Im Spätsommer 1978 begann Pfarrer Martin Göttsching in Bad Frankenhausen seinen Dienst. Als er von der Existenz eines jüdischen Friedhofs hier in Bad Frankenhausen erfuhr, regte er in seiner Kirchgemeinde an, den 40. Jahrestag dieses Ereignisses zum Anlaß zu nehmen, dort eine Andacht zu halten und an diese schlimme Zeit zu erinnern.

Seit dieser Zeit findet jährlich an diesem Tag ein stilles Gedenken an diesem Ort statt. Es gab bis 1989 keinerlei Behinderung durch die örtlichen Behörden; ab1990 werden diese Andachten gemeinsam mit der Stadt gestaltet. Bürgermeister Matthias Strejc verwies innseiner Ansprache auf das schicksalhafte Datum des 9. Novembers in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts: “Wir gedenken gemeinsam seit vielen Jahren auf unserem jüdischen Friedhof der schrecklichen Ereignisse in der sogenannten Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938. Wir tun dies selbstverständlich unter den gegebenen Umständen in diesen schwierigen Zeiten auch am heutigem 9. November 2020.

Der 9. November mit der Ausrufung der ersten deutschen Republik 1919, dem Hitler-Ludendorff-Putsch 1923, der Pogromnacht 1938 und dem Mauerfall 1989 markiert ein herausragendes Datum in der deutschen Geschichte. Dieser „Schicksalstag der Deutschen“, der unterschiedliche historische Ereignisse in ihrer Erinnerungskultur miteinander verknüpft, steht wie kein anderer Tag für die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der deutschen Geschichte im vergangenen Jahrhundert. Bei aller berechtigten Freude über die unglaublichen Ereignisse heute vor 31 Jahren mit der Überwindung von Todesstreifen, Stacheldraht und Mauer zwischen Deutschland-Ost und Deutschland-West: das Geschehen vom 9. November 1938 kann und darf damit nicht in Vergessenheit geraten.

Der 9. November 1938 mit einem von den Nationalsozialisten heimtückisch in Szene gesetzten Pogrom an den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, bleibt für alle Zeiten das Symbol eines Zivilisationsbruchs, der von diesem Tag an zu einem systematisch organisierten Völkermord an sechs Millionen Juden führte und auch andere Minderheiten vernichtete. Die Pogromnacht vom 9. November ist zu einem Symbol der destruktiven Übergriffe antisemitischer Ausschreitungen geworden, zu einem Symbol der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Ausrottungspolitik. Mit dem Gedenken an die Opfer der Pogromnacht ist es allein natürlich nicht getan. Eine glaubwürdige Erinnerungskultur setzt das Engagement jedes Einzelnen für die Werte unserer Demokratie und Wachsamkeit gegenüber ihren Feinden und Gegnern voraus.

Mein Dank gilt allen in dieser Stadt, die sich aktiv gegen jede Form von Intoleranz und Diskriminierung, Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, Hass und Gewalt zur Wehr setzen. Machen wir uns nichts vor: rechtes Gedankengut, Gewaltbereitschaft und Alltagsrassismus stellen nach wie vor eine gesellschaftliche Herausforderung dar, wie die jüngsten Entwicklungen in Deutschland zeigen. Hier ist der Rechtsstaat in seiner Wehrhaftigkeit zum Schutz und zur Einhaltung der demokratischen Grundrechte und -pflichten gefordert. Aber es gibt auch neue rechtspopulistische Auffangbecken, die sich mit dem Deckmäntelchen des „Bürgerlichen“ umgeben.

Wir müssen aufpassen und wir müssen uns entgegenstehen, dass insbesondere in diesen Corona-Pandemiezeiten nicht wenige Menschen versuchen, unsere demokratischen Verhältnisse in Deutschland in Frage stellen und besonders starke rechtspopulistische Gruppierungen diese Situation ausnutzen, um Bürgerinnen und Bürger für sich zu gewinnen. Umso wichtiger ist, auch in unserer Kleinstadt immer und immer wieder an die dunkle Seite deutscher Geschichte zu erinnern, damit ähnliches niemals wieder in unserem Heimatland, in keinem Land dieser Erde passiert.

Meine Damen und Herren, uns war und bleibt die Erinnerung an Reichspogromnacht von herausragender Bedeutung. Wir sind und bleiben das Gedenken den seinerzeit in ihrem unermesslichen Leid allein gelassenen Opfern des Pogroms schuldig.“ Als Grundlage für ihre Andacht wählte Pfarrerin Nadine Greifenstein ein Bibelwort des alten Testaments aus Psalm 74: Sie verbrennen alle Gotteshäuser im Lande. Unsere Zeichen sehen wir nicht, kein Prophet ist mehr da, und keiner ist bei uns, der etwas Dietrich Bonhoeffer unterstrich nach den Novemberpogromen 1938 diese Verse in seiner Bibel und versah sie mit dem Datum 9.11.1938.Diese Markierung Bonhoeffers ist markant, sie lässt mich schaudern, die Psalmworte treffen mich. denn sie stoßen mich nicht nur auf die Geschichte und mein Bewusstsein dafür, sondern sie erinnern mich auch an die zahlreichen Verbrechen, die auch heute an Symbolen des Judentums und an Juden in unserem Land und in Europa verübt werden.

Wir erinnern uns an die vielen Übergriffe und Angriffe auf jüdische Mitbürger, die durch das Tragen eine Kippa als Juden zu erkennen sind. Wir erinnern uns auch an das antisemitische Attentat in Halle vor einem Jahr. Und an die Toten, die sterben mussten, weil sie als Migranten erkennbar waren oder als Unbeteiligte in den Fokus des Täters gerieten. In Deutschland stehen vor vielen Synagogen Polizeiautos, aus gutem Grund. Jüdinnen und Juden können in Deutschland nicht frei ihrem Glauben nachgehen.

Die Ausgrenzung und die Vernichtung der Europäischen Juden während der Zeit des Nationalsozialismus sind nicht bewältigt. Sie kann nie erledigt sein. Aber auch die Ausgrenzung, die Jüdinnen und Juden in der DDR erleben mussten, und die mit ursächlich dafür ist, dass heute in Thüringen so wenige Menschen jüdischen Glaubens leben, ist vielen Menschen unbekannt und unbearbeitet. All das ist am 9. November zu bedenken und ich nehme es beschämt zur Kenntnis, dass wir 75 Jahre nach Kriegsende und 30 Jahre nach der Wiedervereinigung hier noch nicht weiter sind. Und dann ist ja im Psalmwort nicht die Rede allein von jüdischen Gotteshäusern, sondern von allen Häusern Gottes. Sie verbrennen alle Gotteshäuser im Lande. Damit rücken alle Verbrechen an allen religiösen Gruppen in den Blick.

Vor wenigen Tagen wurden in Lyon Besucher eines katholischen Gottesdienstes Opfer eines islamistischen Terroranschlags. Kein Prophet ist mehr da und keiner ist bei uns, der etwas weiß. Das mahnt mich an die Ratlosigkeit vieler Menschen guten Willens in Deutschland und überall auf der Welt im Angesicht des Terrors oder des Fremdenhasses - Der sich zuletzt am Wochenende in Leipzig wieder breitgemacht hat. Keiner ist bei uns, der etwas weiß. Das stimmt ja nicht, will ich laut sagen: Viele Menschen, auch ich, beschäftigen sich mit den erschütternden Nachrichten vom Flüchtlingselend an den Grenzen Europas, mit den Nachrichten vom Antisemitismus in unserer Gesellschaft, vom Wüten des islamistischen Terrors, von Angriffen auf religiöse Minderheiten.

Nicht nur mit den aktuellen Nachrichten sind viele von uns vertraut, wir kennen auch die Hintergründe vieler der aktuellen Konflikte, was meine Ratlosigkeit manchmal jedoch nur noch größer macht. Wie sollen die komplexen Probleme dieser Welt gelöst werden? An weisen Frauen und Männern aber mangelt es uns nicht, vielleicht eher an genug geduldigen Ohren, die ihnen zuhören. Unsere Zeichen sehen wir nicht. Viele Menschen vertrauen nicht mehr den hergebrachten Ordnungen. Was die Nachrichten angeht nicht mehr der Tagesschau, sondern sogenannten „alternativen Medien“, die Propaganda und Hass verbreiten. Was die Zukunft angeht vertrauen sie nicht mehr „der Politik“, wo sie alle Akteure in einen Topf werfen. Menschen, die sich für Gerechtigkeit und die Rechte von Minderheiten einsetzen, werden bedroht, nicht nur im Internet.

Politikerinnen, auch hier in den Kommunen und in unserer Region werden beleidigt und ihnen soll Angst gemacht werden, wenn sie sich für andere einsetzen. Am Grunde vieler unserer aktuellen Probleme in Deutschland und Europa liegt eine Vertrauenskrise. Das ist inzwischen bekannt und fast schon eine Binsenweisheit, wenn man es bei einer bloßen Forderung nach mehr Vertrauen und Zusammenhalt belässt. Wie kann neues Vertrauen gestiftet werden? Doch nur durch gemeinsames Erleben, Erfahrungen der Bewährung als einer Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft, die niemanden aufgrund seines Glaubens, seiner Herkunft, seines Geschlechts oder sexuellen Identität ausschließt. „Sie verbrennen alle Gotteshäuser im Lande. Unsere Zeichen sehen wir nicht, kein Prophet ist mehr da, und keiner ist bei uns, der etwas weiß“
(Psalm 74, 8b,9).

Ich möchte zum Schluss die Losung der Herrnhuter Brüdergemeine für den heutigen Tag hinzufügen. Denn, obwohl wir dieses Jahr viel zu klagen haben, wegen der Corona-Pandemie und der Gewalt in unserer Gesellschaft und der mangelnden Erkenntnis aus der Geschichte, ist da immer auch Hoffnung. Gott spricht: Ich ließ mich suchen von denen, die nicht nach mir fragten, ich ließ mich finden von denen, die mich nicht suchten. Mit einem Gebet und stillem Gedenken wurde die Andacht abgeschlossen. Danach wurden von den Teilnehmern brennende Kerzen auf den Gräbern aufgestellt.
Peter Zimmer