Sonntag
09.11.2014, 07:01 Uhr
Autor
red
Die vor wenigen Wochen verstorbene Journalistenlegende Peter Scholl-Latour kritisierte seine eigenen Berufskollegen, in dem er ihnen Gesinnungsjournalismus vorwarf. Das nimmt ein Leser der Nordthüringer Online-Zeitungen zum Anlass für eine Betrachtung...
Andere, meist ältere Journalisten (z.B. Gabriele Krone-Schmalz), die heute den Ruhestand genießen, lassen ebenso nur wenig Positives zur Qualität der heutigen Medienlandschaft verlauten. - Dies kam mir in den Sinn, als ich ein wenig die Zeitungsbeiträge zum gegenwärtigen Besuch Michael Gorbatschows in Berlin studierte.
Die Überschrift Gorbatschow `stolz` auf Entwicklung in Deutschland mag zwar eine wahre Aussage beinhalten, suggeriert dem Leser aber einen glücklichen und sorgenfreien ehemaligen Generalsekretär (http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/mauerfall/25-jahre-mauerfall-gorbatschow-stolz-auf-deutsche-entwicklung/10952096.html.).
Wie anders klingt da: "Gorbatschow: Westen zieht die Welt in neuen kalten Krieg. (http://www.focus.de/politik/ausland/zum-mauerfall-jubilaeum-gorbatschow-westen-zieht-die-welt-in-neuen-kalten-krieg_id_4259852.html).
Die in diesen neun Worten zusammengefassten Äußerungen sollten die in Berlin regierenden Parteien und ihre Pendants in anderen westlichen Ländern aufhorchen lassen: Wurde uns denn nicht von Frau Merkel, von Herrn Obama und von den Strategen der Nato während der vergangenen Monate permanent eingeschärft, Putin allein sei an der Ukrainekrise schuld? An der Destabilisierung in Europa durch die Annexion der Krim?
Erst vor kurzem schrieb ich in der nnz zu Bundespräsident Gaucks einseitiger Kritik an den Linken und an der DDR, dass wir dort immerhin lernten, warum und auf welche Weise sich der Westen Einflusssphären in der Welt sichert. Gorbatschow erwähnt als Fehler des Westens seine militärischen Aktionen bzw. Einflussnahmen im Kosovo, in Syrien, in Libyen und im Irak.
Und als kleiner Einschub: Dass die Ukraine möglicherweise auch am Abschuss des Fluges MH 17 die Verantwortung trägt, hat zu einem plötzlichen, eisigen Schweigen in der Politik und im Blätterwald geführt.
Ich finde es beeindruckend, und sehr symbolhaft, dass Friedensnobelpreisträger Gorbatschow 25 Jahre nach seinem legendären, an Generalsekretär Erich Honecker gerichteten Satz Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben an praktisch gleicher Stelle wieder eine denkwürdige und für einige Verantwortliche äußerst unbequeme Wahrheit ausspricht.
Wie einseitig wir von unseren Regierenden und auch von vielen Blättern über Hintergründe informiert werden zeigen auch andere Kritiken, die nicht in allzu vielen Zeitungen zu lesen waren:
So leistete erst jüngst der ehemalige Bundessaußenminister Hans-Dietrich Genscher Gorbi gewissermaßen vorfristig eine gewisse Schützenhilfe, in dem er den Umgang des Westens mit Russland scharf kritisierte: Was soll man von einem Sprachgebrauch halten, in dem gefordert wird, Russland zu bestrafen? In der neuen Weltordnung der Ebenbürtigkeit und der Gleichberechtigung ist kein Staat mehr der Schulmeister des anderen. Das sind Dinge, die das Klima in einer negativen Weise verändern. (http://www.welt.de/politik/deutschland/article132865035/Zustand-der-Bundeswehr-Zumutung-fuer-Soldaten.html)
Bedrücken tut mich nicht nur die Einseitigkeit deutscher, vor allem aber auch US-amerikanischer Politik gegenüber Putin. Für Angela Merkel kommt es doch einem Armutszeugnis gleich, dass sie sich vom großen Bruder in Washington faktisch dazu zwingen ließ, dessen Embargopolitik gegen Russland mitzutragen:
/ http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2014/10/05/obama-vize-blamiert-merkel-usa-haben-eu-zu-sanktionen-gegen-russland-gezwungen/.
Und ist es nicht eine schallende Ohrfeige, wenn Michael Gorbatschow Deutschland und den Westen 25 Jahre nach dem Mauerfall an die stabilisierende Bedeutung der deutsch-russischen Partnerschaft erinnern muss?
Selbst frühere US-Geheimdienstler hatten Angela Merkel noch vor kurzem davor gewarnt, nicht alles zu glauben, was ihr vom Weißen Haus aufgetischt wird: Die von den USA vorgelegten Beweise für eine russische Invasion der Ukraine seien höchst nicht ausreichend und erinnerten an die falschen Beweise im Vorfeld des Angriffs auf den Irak, schrieben sie ihr in einem Brief. http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2014/09/02/krieg-gegen-russland-ehemalige-geheimdienstler-warnen-merkel-vor-falschen-beweisen/.
Fragt sich nur, wer und wessen Interessen wirklich hinter einer derartig fragwürdigen Politik steht, die ja offensichtlich Gegensätze zu realen Gegebenheiten offenbaren.
Wenn in Berlin heute eine Kette von 8.000 leuchtenden Ballons an den Verlauf der Berliner Mauer und an deren Erstürmung ohne einen einzigen Schuss erinnern, sollten wir uns eine weitere Äußerung von Friedennobelpreisträger Gorbatschow auf der Zunge zergehen lassen: Angesprochen auf die Worte des damaligen US-.Präsidenten Ronald Reagan anlässlich seines Berlin-Besuchs Ende der 80er Jahre Tear down this wall Mr. Gorbatschow meinte er: "Ehrlich gesagt haben wir das gar nicht so ernst genommen, schließlich ist er ein Schauspieler." Die Frage, ob er hier einen Bezug zur aktuellen US-Politik herstellen wollte, muss zunächst unbeantwortet bleiben.
Beklommen macht mich die Beobachtung, dass sich ausgerechnet einstige Verantwortungsträger bzw, bedeutende Persönlichkeiten erst in hohem Alter, kritische Äußerungen gegen eine fragwürdige, durchaus aggressiv angehauchte Politik des Westens gegenüber vielen Staaten dieser Welt trauen: Scholl-Latour (90†), Gorbatschow (83), Genscher (87). Müsste nicht die von Jüngeren getragene Tagespolitik erst recht selbstkritisch sein und aus den schlimmen Erfahrungen der Vergangenheit lernen, zumal sie ja für den Frieden die Verantwortung trägt?
Und schließlich stört mich, dass bei Wortmeldungen mancher Provinzpolitiker zu entsprechenden Anlässen auch hier in Nordhausen ein kritischer Blick auf Geschichte und Gegenwart meist fehlt.
Bodo Schwarzberg