Herbst 1989 – Zeit der Demos und der Kerzen. Zeit des Umbruchs und des Neubeginns. Vor 25 Jahren geschah im sozialistischen Teil Deutschlands etwas, das man von der Brachialität und zeitlichen Abfolge her weder im Osten noch im Westen jemals für möglich gehalten hätte...
Bürger aus allen Schichten besinnen sich ihrer Kraft, überwinden Zurückhaltung und Anpassung. Sie gehen auf die Straße und rufen den Mächtigen unmissverständlich zu: WIR SIND DAS VOLK! Schon kurze Zeit später bricht ein System, das vorgab, nach den Lehren von Marx und Engels die Gesellschaft zu gestalten einzig auf das Wohl des Volkes bedacht zu sein, wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Neben ungezählten wichtigen Etappen, die die friedliche Revolution in der DDR prägten, sticht ein Ereignis, ein Datum in besonderer Weise hervor: Es ist der 9. November 1989 – der Tag, als die Grenze geöffnet wurde. Doch wie kam es eigentlich zu dieser spontanen Aktion?
Die Ereignisse in der DDR überstürzten sich. Auf einem Plenum des ZK der SED am 18. Oktober 1989 wurde Erich Honecker als Partei- und Staatschef abgesetzt. Nachfolger wurde Egon Krenz. Unmittelbar nach seiner Wahl sprach Krenz im Fernsehen zu den Bürgern der DDR und verwendete in mehreren Passagen das Wort Wende. Die Ansprache ging später als sogenannte Wende-Rede in die Geschichte ein. Zur größten Protestveranstaltung in Ost-Berlin kam es am 4. November. Künstler hatten dazu aufgerufen und weit über eine Million Menschen nahmen daran teil. Sie war und blieb die größte Demonstration in der Geschichte der DDR.
Am 7. November trat die gesamte DDR-Regierung unter Ministerpräsident Willi Stoph zurück. An diesem Tag hatten sich wieder rund 35.000 Menschen auf dem Nordhäuser August-Bebel-Platz zur Kundgebung eingefunden, die u. a. den Rücktritt der Regierung bejubelten. Nur einen Tag später folgte geschlossen das Politbüro des ZK der SED, jenes Organ, welches das eigentliche Machtzentrum in der DDR bildete. Ein neues Politbüro wurde vom Zentralkomitee der SED gewählt. Unter anderen gehörte auch Günter Schabowski diesem Gremium an.
Die sich seit dem Rücktritt Honeckers überstürzenden Ereignisse ließen eine tägliche Pressekonferenz als geboten erscheinen. Sie wurde von Günter Schabowski geleitet. Jene vom 9. November 1989 sollte eine ganz besondere werden. Die neigte sich bereits dem Ende zu, als ein italienischer Journalist, der offensichtlich über Insiderwissen verfügte, nach dem Stand der Ausarbeitung eines neuen Reisegesetzes fragte.
Schabowski schien auf diese Frage nicht so recht vorbereitetet gewesen zu sein. Sichtlich verunsichert griff er in seine Jackentasche, holte einen Zettel heraus und überraschte die anwesenden Vertreter der internationalen Presse – sich noch fragend umsehend – mit folgender Nachricht: Ich habe da noch etwas, aber das ist sicher schon bekannt? - Nach reiflicher Abwägung haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über bestehende Grenzübergangspunkte auszureisen... Und fuhr fort: Privatreisen ins Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden. Auf die Nachfrage des selben Journalisten, ab wann das denn gelte, antwortete Schabowski erneut verunsichert: Ab sofort, unverzüglich. Die Nachricht des Jahrhunderts verbreitete sich wie ein Lauffeuer.
Doch eigentlich war alles ganz anders geplant: Laut einer Reportage von mdr Info war die Bekanntmachung des neuen Reisegesetzes nämlich mit einem Sperrvermerk versehen. Die DDR-Nachrichtenagentur ADN (Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst) sollte diese Meldung erst am folgen Tag – also am 10. November um 4.00 Uhr morgens – verbreiten. Gerhard Lauter, zu dieser Zeit Abteilungsleiter im DDR-Innenministerium, hatte gemeinsam mit zwei weiteren Kollegen die Aufgabe erhalten, in kürzester Zeit ein neues Reisegesetz zu erarbeiten, nachdem ein bereits erstellter Entwurf in der Öffentlichkeit auf massive Ablehnung gestoßen war.
Doch die Neugier eines Journalisten am Ende einer Pressekonferenz und ein unüberlegter Griff eines Pressesprechers in seine Jackentasche ließen den Gang der Geschichte (wieder einmal) völlig anders verlaufen als ursprünglich geplant. Und so bescherte dieser Abend der Welt, insbesondere aber dem deutschen Volk, ein neues Wunder: Das Wunder des 9. November.
Die Mauer wurde geöffnet, Schlagbäume gingen auf. Deutsche aus Ost und West begegneten sich in dieser Nacht und an den folgenden Tagen und feierten Freudenfeste. Alle Hände voll zu tun hatten tags darauf republikweit die Volkspolizei-Kreisämter. Das Nordhäuser VPKA am Kornmarkt (heute steht an dieser Stelle das neue Einkaufszentrum) blieb da nicht verschont. Den Bürgern wurden in ihre Personalausweise ein Stempeleintrag mit dem Vermerk Halbjahresvisum zur mehrmaligen Ausreise gedrückt.
Große Menschenschlangen bildeten sich vor den Filialen der Staatsbank, warteten doch auf jeden Westreisewilligen 15 DM Reisegeld. Noch mehr gab es im anderen Teil Deutschlands. Jeder DDR-Bürger wurde hier mit 100 DM Begrüßungsgeld empfangen. Die bundesdeutschen Behörden hatten in Windeseile operative Auszahlstellen eingerichtet. Wichtigste Ziele der Südharzer in den ersten Wochen der Grenzöffnung waren die Ortschaften Walkenried, Hohegeiß, Tettenborn sowie die Städte Bad Sachsa, Bad Lauterberg, Duderstadt, Herzberg und Osterode/Harz. Jubel und Freude, Aufgeschlossenheit und Herzlichkeit überwogen überall. Vielerorts luden eingerichtete Tee- und Kaffeestuben zur Begegnung ein.
Firmen aus dem Südharzer Raum bauten faktisch über Nacht auf der Westseite – zunächst provisorisch – Straßen und Wege in Richtung Grenze aus. Die Deutsche Reichsbahn bat die Bundesbahn um Züge, denn auf den grenznahen Bahnhöfen – auch auf dem Nordhäuser – wimmelte es nur so von Menschen, die geduldig darauf warteten, erstmals gen Westen reisen zu dürfen. Auf Autobahnen und Fernverkehrsstraßen rollten – mitunter nur im Schritttempo – endlose Fahrzeugkolonnen in jene Richtung, die über Jahrzehnte für die Mehrheit der DDR-Bürger versperrt gewesen war. Allerorts war zu spüren, dass eine neue Zeit begonnen hatte.
Hans-Georg Backhaus