nnz-Betrachtung

Wahlgedanken

Donnerstag
14.09.2023, 10:00 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
Wahlvorschläge zu machen ist Sache der Politik, nicht die des Journalismus. So hat es auch die nnz immer gehalten. Freilich, es steht dem Journalisten offen, seine Gedanken niederzuschreiben und nach dem ersten Wahlgang in Nordhausen drängt sich eine Menge auf…

Wahlgedanken (Foto: nnz/wikimedia commons) Wahlgedanken (Foto: nnz/wikimedia commons)


Wissen Sie was zu den schwierigsten Aufgaben im Journalisten-Alltag gehört? Einen guten Anfang finden. Gerade wenn das Thema schwierig ist. Wie also eine Betrachtung zur OB Wahl in Nordhausen beginnen?

Vielleicht mit einem Witz? Wahlsieger ist am Ende das Gesundheitsamt, denn im Rathaus bricht in zwei Wochen entweder Pest oder Cholera aus. Bada bumm Tusch. Galgenhumor ist, wenn man trotzdem lacht.

Welcher der Kandidaten hier für was steht und ob der eine oder der andere im Vergleich nicht doch eher nur Rachenkatarrh oder gar Heilsbringer ist, hängt davon ab, mit wem man gerade spricht. Das schöne an der Demokratie ist ja aber, dass sie sich um meine Gefühle und Befindlichkeiten nicht zu kümmern braucht. Über 40 Prozent der Wähler haben der AfD ihre Stimme gegeben, mein Gefühl latenter Übelkeit in der Magengegend ändert an freier und geheimer Wahl nichts.

Aber es steht mir auch frei, meine Gedanken und Meinungen zu äußern und nur weil eine Mehrheit im ersten Wahlgang blau gewählt hat, heißt das noch lange nicht, dass ich die AfD jetzt mögen muss. Zur Demokratie gehört ja gerade auch das Dagegen-sein-dürfen. Und die AfD gibt mir reichlich Gründe, dagegen zu sein, ohne dass ich mich groß an dem Herrn Prophet abarbeiten müsste.

Einige Leser müssen jetzt sehr stark sein. Die Nazikeule wird geschwungen werden. Ja, darf man das denn heute noch? Ist das nicht schon antidemokratisch? Ewiggestrige, unfaire Hetze? Atmen Sie tief durch und nehmen sie den Finger von der Feststelltaste. Es geht allein um ein paar Fakten und meine Meinung. Und die werden sie als gute Demokraten sicher aushalten.

Also dann, schwingen wir mal. Die AfD war und ist ein Auffangbecken für Rechtsextreme und Neonazis. „Die AfD erntet, was die NPD gesät hat“, so oder so ähnlich fiel das Fazit diverser NPD-Kader nach deren Verschwinden in der Bedeutungslosigkeit aus. Ihre Sympathisanten haben neue politische Häfen gefunden, nicht nur bei der AfD aber eben auch hier. Das ist ein Fakt.

Bitte wieder Luft holen. Das bedeutet nicht, werte AfD-Wähler, dass jeder einzelne von Ihnen Faschist und Neonazi ist. Es bedeutet lediglich, dass die von Ihnen präferierte Partei derlei Leuten politisch Obdach bietet. Aber Herr Glashagel, auch in anderen Parteien gibt es Extremisten! Die Linken verurteilen sie nicht! Ja, da haben sie recht. Denn bei denen haben die Extremisten nicht das Sagen. Man mag Bodo Ramelow und der Thüringer Linken sicher einiges vorwerfen können, dass die Kommunistische Plattform hier den Ton angibt, dürfte eher nicht dazu gehören. Selbst Nordhäuser Vorzeige-Kapitalisten haben sich mit dem einstigen Schreckgespenst unter moderater Führung anfreunden können.

Bei der Thüringer AfD ist das Gegenteil der Fall, da ist der radikale Teil der Partei das Aushängeschild und damit sind wir auch bei meinem Kernproblem. Ich kann die Existenz der Partei an sich als rechtskonservatives Element jenseits der CDU in einem demokratischen System durchaus rational nachvollziehen. Dass es ein ums andere mal die extremsten Teile dieses Spektrums sind, die den Ton in der Partei angeben, kann ich aber gleichsam nicht guten Gewissens ignorieren. Und mit meinen Sorgen dürfte ich nicht alleine sein. Wo sich Herr Prophet in seiner Partei einordnet ist mir letztlich zweitrangig. Sehen wird man Höcke. Es ist sein Kreisverband. Es ist seine Thüringer AfD. Das wird man nicht nur in Berlin und Erfurt registrieren, sondern auch in der Partei selbst. Ein Sieg in Nordhausen ist ein Sieg für Höcke. Ein weiterer Sieg in Thüringen ist ein weiterer Sieg für die Teile der AfD, die das Schiff seit dem Auslaufen ein ums andere mal weiter in Richtung extrem gesteuert haben.

Wählbar ist man offenbar trotzdem, was sich mir nicht recht erschließen will, aber ich bin hier auch nicht die Zielgruppe. Mir muss keiner erzählen, dass man mir meine Identität abspenstig machen würde, oder dass ich meine Heimat nicht lieben dürfte. Ich denke dass ich mich im Gewirr des kulturellen Wurzelgeflechts dieser Stadt besser auskenne, als der Durchschnitt und es wertzuschätzen weiß. Aber meine Identität als Nordhäuser steht nicht an erster Stelle, auch nicht der Thüringer oder der Deutsche. Der Mensch steht im Mittelpunkt, vor allem anderen. So bin ich erzogen worden, hier in Nordhausen, in den 90er-Jahren.

„Baseballschlägerjahre“ hat man die Zeit in der Rückschau auch genannt und ich erinnere mich nur zu gut, dass der Großvater Sorge hatte, mir könnte auf dem Schulweg etwas zustoßen, weil ich im Sommer bei reichlich frischer Luft nicht so recht arisch aussehe. Schon wieder diese Nazikeule, Herr Glashagel? Ja, weil ich eben das Vokabular damals nicht selten zu hören gekriegt habe. Die Bomberjacken und Springerstiefel sind inzwischen aus dem Stadtbild verschwunden, dass Gedankengut ist es wohl nicht. Ich kann nicht guten Gewissens bei einer Partei mein Kreuz machen, die eben jenen Leuten einen Weg an die Schalthebel der Gesellschaft ebnet. Die AfD geht mir nicht gegen irgendeine Ideologie, sie geht mir gegen meine Ideale. Und noch einmal: es ist nicht jeder AfD Wähler gleich Faschist. Aber für Leute die es sind, bietet die Partei einen Weg an Stellen, an denen ich sie nicht haben möchte. Die Erfolge der AfD, gerade in Thüringen, sind Wasser auf eben diese Mühlen. Mit diesem Umstand muss man als Wähler leben können. Ich kann es nicht. Das ist das Kernproblem. Das ist meine Sorge. Das macht die Partei und ihre Kandidaten für mich unwählbar.

Dass sich mit Nationalismus, dieser unsäglichen Kopfgeburt des 19. Jahrhunderts, immer noch reichlich Stimmen holen lässt, ist aber bekanntermaßen kein rein deutsches Phänomen. Man könnte hier jetzt weit ausschweifend die Leine werfen, philosophieren, spekulieren und vergleichen. Das muss an anderer Stelle zu anderer Gelegenheit nachgeholt werden, hier soll es schließlich um die kleine Nordhäuser Wahl gehen.

Wissen Sie was ebenso zu den schwierigen Aufgaben der schreibenden Zunft gehört? Einen Endpunkt zu finden, von einem guten, eleganten Ende ganz zu schweigen. Der Endpunkt hier wird weder das eine noch das andere, allein weil noch mehr zu schreiben bleibt. Da ist die offenbare Schwäche und Fehlkalkulation der Wahlverlierer, Gedanken zum Ideal informierter Wählerschaft, Emotion und Inhalt und mit all dem verquickt die zweite Seite der Stich-Wahlmedaille, die hier noch nicht ausreichend gewürdigt werden konnte. Mehr dazu in Kürze. Und bitte, nehmen sie die Finger von der Feststelltaste. Eine ehrliche Diskussionskultur ohne Hysterie tut dringend Not, nicht nur in der nnz.
Angelo Glashagel

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