Premiere für "Carmen"

Eine unkonventionelle Interpretation

Montag
16.09.2024, 11:57 Uhr
Autor
red
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Am Nordhäuser Theater feiert Bizet's "Carmen" in der Interpretation von Benjamin Prins Premiere. Die fällt ungewöhnlich aus, am Theater hat man den Operndirektor nach seinen kreativen Beweggründen befragt...

»Welche Realistik, was für ein Skandal!« hieß es bei der Uraufführung von »Carmen«. Die heute wohl bekannteste Oper fiel erst einmal durch. Wie weit folgt ihr in eurer Interpretation der Vorgabe, der Realistik?

Operndirektor Benjamin Prins (Foto: Theater Nordhausen) Operndirektor Benjamin Prins (Foto: Theater Nordhausen) »Carmen« ist ohne Paris, in der sie entstanden ist, nicht denkbar. Paris befand sich zur Zeit der Uraufführung (1875) in einem traumatischen Umbruch. Bizet war ein begeisterter Republikaner und hat sich komplett von der Commune in Frankreich, einer marxistisch geprägten Bewegung in Paris, inspirieren lassen. Man weiß, dass Bizet nach »Carmen« eigentlich ein Stück über die Pariser Commune schreiben wollte. Eine politische zeitgenössische Oper sollte es werden. Ich sehe auch »Carmen« als eine zeitgenössische Oper an. Zum einen werden wir die Geschichte realistisch umsetzen, indem wir die Glaubwürdigkeit der Charaktere und Situationen in den Fokus stellen, so dass alles wie in einem Film plausibel sein wird. Wir haben aber auch ein ästhetisches Ziel, wofür wir künstlerisch mit diesem Realismus umgehen, und durch Farbdramaturgie in Kostüm und Bühnenbild einen Retro-Futurismus schaffen.

Carmen ist eine stolze, eine sehr starke Frau, ein Symbol für Selbstbestimmung. Sie toleriert keinen männlichen Besitzanspruch und steht als Beispiel für gelebte Freiheit. Wie siehst du diese Figur in deiner Konzeption?

Freilich geht es auch um Emanzipation, darum, sich aus der Hand eines dominierenden Patriarchats zu befreien, es geht aber eben nicht nur um Freiheit in der Sexualität – natürlich hat Carmen etwas von Casanova, sie folgt ihrem Alter entsprechend ihrer Libido – sondern auch um die menschliche Position im Spektrum der Gesellschaft, in den Machtkämpfen, die es gibt zwischen Dominierenden und Dominierten. Carmen steht für mehr als nur Emanzipation, für sie ist Liberté das Ende der Illusion einer Scheinwelt, die Realität ist anders. »Liberté« – ist ein zentraler Begriff in dieser Oper aber eben nicht nur in amouröser Hinsicht. 


In der Vorlage von Prosper Mérimée ist Carmen eine Prostituierte, du hast das aufgegriffen?

Bei mir gibt es keine Zigarrenfabrik, die Frauen sind Sex-Arbeiterinnen. Es ist genau die Situation, wie sie die Gesellschaft im 19. Jahrhundert vorgibt. Für mich ist das ein Euphemismus im Libretto, dass es Zigarrenarbeiterinnen sind, und ich finde, es ist klar, dass es bei Zigarren nicht nur um Tabak geht. Ich wollte durch diese Bordellszenerie die Situation der Frau im 19. Jahrhundert in Frankreich aufzeigen. Prostitution war damals der einzige Weg für eine Frau, aus ihrer sozialen Schicht auszubrechen. Oder auch durch Kunst – Tänzerinnen, Schauspielerinnen, auch Schriftstellerinnen gelang dies. Carmen macht beides, sie verdient ihr Geld nicht nur als Prostituierte, sie ist auch Sängerin und Tänzerin.

Ihr Partner, Don José ist in Prosper Mérimées Vorlage für das Libretto ein ziemlich hartgesottener Kerl, dreifacher Mörder, in der Oper ist die Figur eher abgemildert. Hier ist José ein Soldat und zaudernder Liebhaber, der an das Befolgen von Befehlen glaubt.

Das stimmt, zu Mérimées Zeit war es in der Literatur ziemlich hype, ein Mörder zu sein bzw. einen ins Zentrum der Literatur zu stellen. Bei Bizet ist es ein guter Christ und Soldat, der unfähig ist, den Zwängen der Gesellschaft zu entkommen. Die französische Theatertradition sieht keine Morde auf offener Bühne vor. Zudem hatten sich die Herren in der Opera Comique 1875 lieber mit diesem tenoralen Liebhaber identifiziert, und die weibliche Ikone als Provokation gesehen. Don José war für die Herren dieser Zeit das Sinnbild eines Opfers der Frau.

Wie wir wissen, hat Bizet nie spanischen Boden betreten, wie spanisch ist für dich diese Oper?

Genau, auch Puccini hat nie China für »Turandot« betreten. In »Turandot« geht es auch nicht um China, sondern um Persien und Europa. Bei Bizet ist es ähnlich, ihm geht es nicht vordergründig um Spanien oder um Sevilla, sondern um die Situation in Frankreich, in Paris, auch wenn er spanische Elemente in der Musik nutzt.

Allerdings gibt es auch einen typischen Vertreter Spaniens. Aus einem bei Mérimée lediglich am Rande erwähnten Picador machen die Librettisten eine prachtvolle Hauptgestalt: den Torero Escamillo. Wofür steht er bei dir?

Ja, Escamillo durchlebt seine Berufung, Stiere zu töten, mit allen Facetten und allen Nuancen. Er ist nicht per se brutal, wenn er diesen Partner, diesen Stier tötet. Er ist ein Mensch komplexer, wahrhafter Beziehungen, der auch eine tierische Seite hat. Dadurch, dass Carmen auch eine animalische Seite in sich trägt und auslebt, wären die beiden eigentlich das perfekte Paar.

Eigentlich ist »Carmen« eine Opéra Comique und demgemäß gibt es im Original keine Rezitative, sondern Sprechtexte zwischen den einzelnen Nummern. Warum habt ihr euch für die Rezitativfassung entschieden?
Erst einmal, weil die Rezitativfassung gut ist und weil wir durch das Durchkomponierte einen guten Rhythmus, einen guten Fluss des Geschehens haben.

Du sprachst eingangs darüber, dass die Szenerie fast filmischen Charakter hat. Ihr habt euch für die Bühnenkonzeption von Peter Greeneways Film »Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber« inspirieren lassen.

Ja, zumindest, was die Farbkonzeption der Bühne betrifft. In den drei Räumen, in denen wir spielen, dominieren jeweils die Farben Rot, Blau und Grün. Das Bordell ist rot, der Raum der Soldaten ist grün und blau die Szenerie des Gefängnisses. Die Ausstatter haben sich in ihrer Interpretation zeitlich nicht festgelegt. Auch die Gestaltung der Kostüme folgt retrofuturistischen Aspekten. Diese Geschichte könnte so in zwei Jahrzehnten oder auch jetzt spielen. Da hat uns besonders der Film »Poor Things« mit Emma Stone mit seiner Surrealität beeinflusst.

So lässt das Kostüm der Carmen zum Beispiel Assoziationen mit einem Stier zu, dann habt ihr Schweinemasken – was erzählt ihr damit?

Die Schweinemasken tragen die Soldaten. Ich wollte im Mittelpunkt der Oper, dass ist die Party bei Lillas Pastia, daran erinnern, dass Männer – zumindest hier die Soldaten, sich wie Schweine benehmen. Das zeigt ihr wahres Gesicht – zumindest hier an diesem »sexuellen« Ort, ich wollte subtilere Zeichen als Geschlechtsteile auf die Bühne bringen.

Wir befinden uns auch nicht in der Schmugglerszene, wie es das Libretto vorgibt?

Die Schmuggler ziehen bei Bizet durch die Berge Andalusiens und schmuggeln, was auch immer – Waffen, Drogen usw. Ich fand das nicht so interessant. Ich wollte, dass die Figuren eine inhaltliche Beziehung zu der Soldatenszene, zu dieser Diktatur haben. Dann hatte ich beim Hören ihrer Musik Lieder der Resistance im Ohr, es klingt ganz genauso. Die Resistance war eine politische Gruppierung in Paris, die gegen das Establishment im Untergrund arbeitete. Auch weil die Commune sehr nah an der Zeit von Bizet war, spielt bei uns diese Szene in einem Büro der Resistance. Dann ist »La montage« im Libretto übersetzt mit »in den Bergen« der Ort, wohin die Schmuggler ziehen. »La montage« ist aber im französischen politischen Wortschatz auch der Ort in der Nationalversammlung, dem Assemblée nationale, wo man an höchster Stelle gegen das Regime protestieren kann. Bei mir werden also nicht Waren geschmuggelt, sondern Ideen, um das Regime zu erschüttern.

Eine weitere Frauenfigur, Micaëla, gibt es bei Mérimée so nicht, Bizet und seine Librettisten haben sie als Gegenpart zu Carmen eingefügt.

Bizet verehrte den Komponisten Gounod, ich glaube, ihn hat die Figur der Margarete aus dessen Oper inspiriert. Micaëla ist eigentlich eine coole Frau, aber sie ist in einer toxischen Beziehung mit Don José. Sie ist ein Mädchen aus dem Volk und verkörpert die Familie, das Heimatland, während Carmens Themen Freiheit und Ungebundenheit sind.