Blitzeinschläge beim 200. Hunderter von Bode Schwarzberg

Jubiläumswanderung „Von der Müritz zur Warnow“

Montag
08.07.2024, 15:15 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
Zweimal musste Extremwanderer Bodo Schwarzberg unvorhersehbarerweise im Zuge einer 100-Kilometerwanderung mit dem Taxi fahren: Bei seinem ersten Hunderter am 30. Juni 1984 und bei seinem 200. Hunderter genau 40 Jahre später, am 30. Juni 2024. Hier erfahren Sie von Bodo Schwarzberg die ganze Geschichte...

Hier war die Welt noch in Ordnung: Acht der zehn Gestarteten um kurz nach Sechs am 29.06.24 am Bahnhof Waren (Müritz). (Foto: B.Schwarzberg) Hier war die Welt noch in Ordnung: Acht der zehn Gestarteten um kurz nach Sechs am 29.06.24 am Bahnhof Waren (Müritz). (Foto: B.Schwarzberg)

Am Wochenende 30.06./01.07.1984 absolvierte ich bei der Veranstaltung „Von der Müritz zur Warnow“ meine erste Nonstopwanderung über „100 Kilometer“. Veranstalter war die damalige BSG Lokomotive Rostock unter dem Hunderterpionier Mecklenburg-Vorpommerns Alfred Borchert aus Rostock. Ausgeschrieben waren genau 115 Kilometer.

Bei mir wurden es am Ende jedoch, der Deutschen Reichsbahn wegen, nur 96. Der genaue Grund hieß Zugverspätung: Denn 1984 kam man oft im Gegensatz zu heute, auch nachts auf wichtigen Strecken mit Fernzügen an sein Ziel, und die Züge fuhren, auch im Gegensatz zu heute, tatsächlich. Das Verspätungsproblem jedoch wurde, ganz im Gegensatz zu echten sozialistischen Errungenschaften, bei der Übernahme der DDR mit übernommen.

Den für den 30.06.1984 um 6 Uhr am Bahnhof Waren festgelegten Start erreichte ich erst nach 8 Uhr. Und da kommt das Taxi ins Spiel. Denn eines dieser zu DDR-Zeiten rar gesäten Fahrzeuge, ein großer Wolga, wartete tatsächlich vor dem Bahnhof Waren auf Fahrgäste. 6er Schnitt, drei Stunden Wanderzeit, ca. 18 Kilometer, rechnete ich schnell die wahrscheinlich von der Wandergruppe zwischen 6 und 9 Uhr zurückgelegte Wanderstrecke aus. - Das konnte ich, weil mir Wanderleiter Alfred Borchert glücklicherweise die geplante Route zugeschickt hatte.

Den Taxifahrer, ich sehe noch einen großen, bulligen Mann vor mir, der kaum in seinen Sitz passte, bat ich, mich in das 19 Kilometer entfernte Örtchen Malkwitz zu fahren. Mein Plan ging auf. Denn kaum war ich dem Auto entstiegen, sah ich tatsächlich wenig später eine ca. 10-köpfige Wandergruppe. „Seit ihr Müritz-Warnow?“, fragte ich hoffnungsvoll. Und als dies von einem kleinen, leicht untersetzten Mann, Alfred Borchert, bejaht wurde, fiel mir ein Stein vom Herzen: Denn mein erster Hunderter schien nun fast gerettet zu sein. Doch war er das wirklich? Immerhin galt es von Malkwitz nach Rostock Hauptbahnhof noch 96 Kilometer zu Fuß zurückzulegen. Und 96 Kilometer waren nicht 100.

Beide Probleme lösten sich. Das zweite Problem zuerst: Denn Alfred Borchert meinte, dass man 96 Kilometer auch als gewanderten Hunderter anerkennen könne, was bis heute, wegen der immer wieder auftretenden Unschärfen bei den digitalen Streckenvermessungen, üblich ist. Und das zweite Problem, löste ich gemeinsam mit den damaligen Wanderfreunden in den folgenden 22 Stunden.

Über Güstrow (km 60) und Bützow (km 75), wo wir jeweils pausierten, erreichten wir nach der Passage wunderschöner mecklenburgischer Kieferwälder und malerischer Seen am folgenden Morgen, Rostock. Den Fuß hatte ich voller Blasen und konnte noch Tage danach kaum gehen, aber den Sack hatte ich nach mehreren vergeblichen und schmerzhaften Versuchen in den Jahren zuvor, zugemacht.

Dass ich genau 40 Jahre später auf derselben Route bei meinem 200. Hunderter würde erneut mit einem Taxi fahren müssen, um mein Wanderziel zu erreichen, das hätte ich nicht für möglich gehalten. Aber vor einer Woche, am Wochenende 29./30.06.2024 wurde dies erneut Realität.

Diese Aufnahme entstand zwischen Malkwitz und Bornkrug nach rund 23 Kilometern. (Foto: B.Schwarzberg) Diese Aufnahme entstand zwischen Malkwitz und Bornkrug nach rund 23 Kilometern. (Foto: B.Schwarzberg)


Als Jubiläums- und Gedenkwanderung für den damaligen 1984er Wanderleiter und Hunderterpionier des Nordens Alfred Borchert starteten wir am vorvergangenen Sonnabend, wie die damalige Truppe auch um 6 Uhr am Bahnhof Waren, um von der Müritz nach Rostoc zu wandern.

Um allen Eventualitäten zu entgehen, waren wir neun Teilnehmer schon am Abend zuvor angereist und hatten in Waren übernachtet. Meine Mitwanderinnen und Mitwanderer kamen aus vielen Teilen Deutschlands, aus dem Vogtland, München, Halle, dem Großraum Berlin, Rostock, Jena und Nordhausen. Der 2020 verstorbene Alfred Borchert hätte sich über eine geografisch so bunte Truppe gewiss gefreut.

Bereits 2023 war ich die geplante Wanderroute Waren-Rostock zwecks elektronischer Aufzeichung und Kontrolle während eines Urlaubs mit einem muskelgetriebenen Mountainbike abgefahren.

Und das erwies sich auch als notwendig, denn an einer Stelle gab es im Vergleich zu 1984 in der Realität keinen Weg mehr.

Die am Ende 112 Wanderkilometer wollten wir in etwas mehr als 24 Stunden schaffen, was einem relativ straffen Zeitplan entspricht. Auch auf Grund der recht hohen Temperaturen von um 26 Grad floss daher der Schweiß in Strömen, ich selbst nahm acht Liter Getränke zu mir, darunter zuvor entkeimtes Wasser des teils zur höchsten Gewässergüteklasse zählenden Flusses Nebel, den wir mehrfach überquerten und der bei Bützow in die Warnow fließt.

Einkehrpausen gab es nach 28 Kilometern im Gutshaus Linstow, wie 1984 nach 60 Kilometern in Güstrow und nach 75 Kilometern in Bützow. Bis Bützow hatten drei Teilnehmende ihre Urkunden erhalten. Planmäßig verließen wir anderen um 23:45 die Bützower Gaststätte, in der zahlreiche Männer und einige wenige Frauen gerade in das EM-Spiel Deutschland-Dänemark vertieft waren, und welches, glücklicherweise, 2:0 für Deutschland ausging.

Die Jubiläumstour hätte so schön enden können. Zwei Drittel der Strecke hatten wir geschafft. Und bis morgens um 2 hatten wir auch die vorgesehenen Zeiten eingehalten. Passin, Hof Tatschow und Bröbberow hießen die in der wenig reizvollen Agrarlandschaft südlich von Rostock durchwanderten Ortschaften. Endlich war es kühler geworden, der Schweiß hatte sich aus unseren T-Shirts verflüchtigt und ein großer, oranger Mond wies uns zeitweise den weiteren Weg.

Zwei Stunden später hätten wir die Taschenlampen ausschalten können und weitere zwei Stunden später, gegen 6 Uhr 20, hätten wir das Ziel, den Rostocker Hauptbahnhof sicher erreicht. Dann hätte es aus unserer Sicht auch hemmungslos regnen und gewittern können. Aber all das kam viel früher. Zwar hatten die Wetter-Apps seit Tagen für die Zeit ab 6 Uhr für den Raum Rostock Gewitter angesagt. Auch deshalb waren wir bestrebt, unseren Zeitplan einzuhalten. Dass die zu erwartende Gewitterfront jedoch schon gegen Drei über uns herfallen würden, damit hatten wir nicht gerechnet.

Das Unheil kündigte sich durch drohendes Wetterleuchten an. Dann begann es zunächst harmlos zu tröpfeln, wenig später donnertes es und noch ein paar Minuten später brach das sprichwörtliche Inferno los. Die Gewitterfront tobte sich über uns aus, Blitze schlugen nur wenige Meter entfernt von uns ein, und in kürzester Zeit waren wir durchnässt. Ja, die Situation war gefährlich. Erst vor wenigen Wochen hatte ein Blitz am Dresdner Elbufer zahlreiche Menschen außer Gefecht gesetzt, ein Mensch war später gestorben. Dieses Bewusstsein truge wir mit uns.

Und obwohl es unwahrscheinlicher ist, als ein Sechser im Lotto, tatsächlich als menschlicher Blitzableiter zu dienen, durften wir nicht einfach weitergehen. 24 Stunden wandern im Dauerregen, das kannten wir. Aber Blitzeinschläge in wenigen Metern Entfernung nicht.

Kurz hinter Bröbberow befindet sich das fast einzige Waldstück unserer nächtlichen Wanderroute. Dort gingen wir hinein, hockten uns in möglichst großer Entfernung zu Bäumen hin und legten einige größere metallische Gegenstände ab. Unter meinem großen Schirm fanden mehr schlecht als recht drei Wanderer Platz, die anderen mussten sich mehr oder weniger fluten lassen.

Da das Getöse und die Blitzeinschläge auch nach rund einer Stunde einfach nicht aufhören wollten und auch die Wetter-App nichts Gutes verhieß, beschlossen wir den Abbruch der Wanderung. – Und, Sie ahnen es, eine Taxifahrt nach Rostock. Dazu jedoch mussten wir notgedrungen auf die Straße zurückkehren. In einer vermeintlichen Gewitterpause mussten wir den nächsten Ort, das rund einen Kilometer entfernte Benitz, erreichen (km 97), was sich jedoch alles andere als ungefährlich erwies. Denn kaum hatten wir unsere Hockstellung aufgegeben, um ins Freie zu treten, nahm das Gewitter erneut Fahrt auf. Schützen tat uns allenfalls eine zu durchquerende Überlandleitung, in die wir tatsächlich auch Blitze einschlagen sahen.

Als bei einem Teilnehmer sein metallischer Schirm durch elektrische Entladungen bedrohlich zu leuchten begann und er selbigen in Panik von sich warf, hockten wir uns ereut hin, diesmal in den Straßengraben.

Wir riefen bereits von hier aus ein Taxi, erreichten schließlich Benitz, das Taxi erreichte wenig später uns. Gegen 5 Uhr 30 waren wir in Rostock Hauptbahnhof. Selbiger war noch verschlafen. Einige müde Gestalten dösten auf den Bahnhofsbänken, während wir uns zwischen zwei Gewitterfronten, unserer Wandererehre wegen, auf drei weitere Kilometer durch das leergefegte Rostocker Bahnhofsviertel begaben. Den ersten Kaffee gab es sowie erst ab Sechs. Wir erreichten den überteuerten Rostocker Bahnhofkaffee pünktlich. Und kaum saßen wir im Imbiss, öffneten die schweren Wolken erneut ihre Schleusen. Der Regen prasselte laut auf die Vordächer des Bahnhofs, der es angesichts dieses Wetters schwer zu haben schien, zu erwachen. Wir schlürften unseren Kaffee und saßen, gesund geblieben, im Trocknen.

So endete der Jubiläums-Hunderter „Von der Müritz zur Warnow“, mein 200., mit einer Taxifahrt, vor 40 Jahren hatte der erste Hunderter mit einer Taxifahrt begonnen. Vielleicht hatte Alfred Borchert die Blitze aus dem Wandererhimmel zu uns hinunterschickt, sinierte ich, um uns seinen Unmut über die erst nach seinem Tod entstandene Idee kundzutun, seinen Hunderter zu wiederholen. Vielleicht hätte er uns ja am Bahnhof Waren gern veraschiedet?

Unsere Rostocker Teilnehmerin Diana schickte mir einen Tag später einen Ausschnitt aus der Ostseezeitung, der bestätigte, dass wir in kein gewöhnliches Gewitter geraten waren: Immerhin waren im Raum Rostock Blitze in Häuser eingeschlagen und hatten Brände versursacht. Die Feuerwehren seien im Dauereinsatz gewesen. Und ein Deutsche Wetterdienst-Meteorologe sprach demnach von einer „sehr, sehr hohen“ Blitzaktivität.

Sechs der zehn Gestarteten erreichten auf dieser denkwürdigen Langstreckenwanderung 100 Kilometer.

Auf Grund der wunderschönen Region Mecklenburg-Vorpommern und natürlich auf Grund des Ausganges der diesjährigen Tour, soll die Wanderung „Von der Müritz zur Warnow“ im kommenden Jahr noch einmal stattfinden, dann selbstverständlich in voller Länge und ohne Taxifahrt.
Bodo Schwarzberg