Von Heidelore Kneffel

Gedanken zu Heinz Scharrs 100. Geburtstag

Dienstag
25.06.2024, 09:32 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
Als wir von Sollstedt kommend in Richtung Rehungen gefahren waren, hatte uns linkerhand die Hainleite begleitet, rechterhand erhob sich aus dem Feld ein vorgelagerter Hügel, mit dichtem Baumbestand umwachsen...

Dahinter verbarg sich der alte Templerhof „Utterode“, eine größere Vierseitenhofanlage, die man aber von hieraus im Sommer nicht sah. Man hatte uns in Nordhausen erzählt, der Deutschritterorden hätte sich einst in Nordhausen befunden, wäre wie die anderen 1312 auch auf päpstliche Verfügung hin aufgehoben worden und die Güter kamen an den Johanniterorden. Einer der Brüder der Grafen von Hohnstein war in Utterode Tempelherr gewesen, so verkaufte der Orden Utterode 1316 an die herrschenden Hohnsteiner Grafen. Wir drei Besucher waren gespannt, was uns dort empfangen würde.

Wohngbäude der Scharrs in Utterode (Foto: H.Kneffel) Wohngbäude der Scharrs in Utterode (Foto: H.Kneffel)


Nun also saßen wir im August 1992 ins Gespräch vertieft im ersten Wohnzimmer, fragten nach Scharrs Biographie. Geboren wurde er 1924 in Sondershausen, hatte zwei Geschwister und wurde mit 18 Jahren zur Marine eingezogen, er wollte unbedingt dorthin, um etwas von der Welt zu sehen, lernte Frankreich, Spanien und Holland kennen. Als Kriegsgefangener war er interniert in Frankreich, England und Belgien, lernte schwerste Bedingungen in den Kohlegruben kennen, 1947 kam er frei. Wir führten das Gespräch in der Sesselgruppe im zweiten Wohnzimmer weiter, tranken amerikanischen Likör. Scharr erzählte, wir stießen nur die Gedanken an. „Habe ich das schon erzählt? Nein! Also, das war damals so …“ Während der Marinezeit in Frankreich habe er immer geschnitzt. Er wollte in Urlaub fahren, da hieb er sich in den Handballen. Kein Blut, aber Weißes sei zu sehen gewesen. Also alles ziemlich tief. Zu Fuß etwa 25 km durch die Camargue zum nächste Arzt, einem Russen. Die Kosaken hatten sich mit den Deutschen verbündet, mussten immer die erste Front bilden. Der Russenarzt nahm aus einer Schachtel voller Zwirnrollen eine heraus, steckte einen derben Faden in eine Rundnadel, hob die Wundränder mit der Pinzette an und stach erst in die eine Seite, dann in die andere, schnitt ab, verknotete. So kamen etwa fünf Knoten zustande. Scharr, jung, tapfer mit Bart, der seine Männlichkeit bezeugte, hielt aus. Dann liefe er, mit einem Verband versehen, wieder durch sumpfiges Gelände zurück zum Stützpunkt, bekam den Urlaub. Zu Hause zeigte sich dann der rote Streifen am Arm, der Arzt konnte helfen. Scharr sah seinen älteren Bruder, auch bei der Marine, das letzte Mal. Er kam im Krieg um bei einem Seegefecht auf dem Atlantik.

Scharrs hatten bei der Größe und dem Zustand des Anwesens oft mit der Kreisdenkmal-behörde zu tun. Eigentlich möchten sie das Fachwerk überall wieder herstellen, noch wird es damals z. B. im Wohnhausteil durch Metallschiefer verdeckt. Doch für die Denkmalbehörde sei das damals nicht möglich und nötig gewesen. Das löste Erinnerungen an Hue de Grais in Wolkramshausen aus.

Vorgelagerter Hügel, hinter dem sich der Vierseitenhof Utterode verbirgt  (Foto: H.Kneffel) Vorgelagerter Hügel, hinter dem sich der Vierseitenhof Utterode verbirgt (Foto: H.Kneffel)


Als Scharrs im Landkreis Nordhausen ein Domizil wegen des Auftrages für die Gedenkwand im ehemaligen KZ Dora suchten, wollten sie ein größeres Grundstück im Kreis Nordhausen kaufen, z. B. in Wolkramshausen. Der Bürgermeister zeigte ihnen ein auffälliges Gebäude mit einer Mauer drumherum. „Das ist unser Schloss!“ Im Innenhof eine schöne Kastanienallee - wurde dann abgeholzt. Barockes zeigte sich. Im Inneren eine wertvolle Ausstattung mit Möbeln, Delfter Kacheln, Stofftapeten mit Personen und Landschaften, kunstschmiedeeisernen Ofenplatten, Ölbilder der Vorfahren, die Perücken trugen. Die letzte Inhaberin war gestorben, „es ist frei, sie können es haben!“ Das Dach musste repariert werden, deshalb hausten die Handwerker dort. Eine Sammlung alter Postkarten lag verstreut in einem Zimmer. Die Bibliothek war ausgebrannt, die wertvollen französischen Bände waren verbrannt oder vorher „entnommen“ worden. „Also“, sagte Scharr,“ räumt es leer, ich nehme es!“. Aber, es wurde dann nichts, denn neue Herren wollte man im Ort nicht! „Gott sei Dank habe ich es nicht bekommen“, sagte Scharr, „denn heute sind die Erben da.“ Wir wollten gern die Atelierräume sehen, gingen aber vorerst daran vorbei nach draußen, um im parkähnlichen Teil vor dem ehemaligen Komturhof des Deutschritterordens eine besondere Sehenswürdigkeit zu betrachten, eine uralte Linde, der Scharrs die Eule angehängt hatten.

Linde als Kulturdenkmal im Anwesen der Familie Scharr in Utterode                       (Foto: H.Kneffel) Linde als Kulturdenkmal im Anwesen der Familie Scharr in Utterode (Foto: H.Kneffel)


Man nennt diese erhabene Baumgestalt auch den Koloss von Utterode, ein Naturdenkmal besonderer Güte. Sie hat die Form einer Kandelaberlinde, war vielleicht sogar eine Tanzlinde. Manche sprechen von einer Gerichtslinde. Für Scharr ist das ein geheiligter Ort, kein Besucher kann sich der Sogwirkung dieses Baumes entziehen. Um das Baumdenkmal standen in spannungsvoller Anordnung Figuren aus Eisen auf Steinsockeln, von Scharr aus Metallschrot geformt. Darüber würde er uns bei einem weiteren Besuch aufklären. In den Atelierräumen nahm uns dann die Fülle der Eindrücke gefangen. Wir wollten gern wissen, wie sein Weg zur Kunst gewesen war.

In einem der Atelierräume mit Karin Kisker (Foto: H.Kneffel) In einem der Atelierräume mit Karin Kisker (Foto: H.Kneffel)


Nachdem er sich dem Kulturbund zur demokratischen Erneuerung angeschlossen hatte, denn ein anderes Deutschland musste entstehen, wurde er in Weimar vorstellig, denn er wollte eine künstlerische Laufbahn wagen. Der Architekt Hermann Henselmann empfängt ihn im Morgenrock und leitet ihn nach Leipzig weiter an die Hochschule für Grafik und Buchkunst. Als er dort zum Aufnahmegespräch erscheint, kommt mit ihm ein hagerer, schmalgesichtiger Mann. Es war Werner Tübke. Beide werden von dem als „Malerfürst“ betitelten Ernst Hassebrauk, 1905 geboren, empfangen. Scharr war erstaunt, in Tübkes Mappe auch gemalte Damenbildnisse mit Hüten zu sehen. Er hatte Tierzeichnungen mitgebracht. Im Atelier sollte sich das Geheimnis lüften, denn dort sah man einige vom Dozenten gemalte Damenbildnisse ähnlicher Art. Als Scharr uns seine nächste Lehrmeisterin vorstellt, Jahrgang 1893, schwingt Hochachtung aus seiner Stimme. Ein Foto von ihr blickte von der Atelierwand – Elisabeth Voigt. Die war Meisterschülerin von Käthe Kollwitz gewesen, davor bei Carl Hofer. „Für mich war sie ein wunderbarer Mensch, war Halbjüdin, im Christlichen verwurzelt. Ging ich zum Zeichnen in den Leipziger Zoo, so ließ sie verlauten: „Nicht nur Löwen, es gibt auch Gänse!“ Scharrs Erkenntnis – und so mancherlei dazwischen. Er hatte Glück mit seinen Dozenten. Auch von dem großen Zeichner Max Schwimmer, Jahrgang 1895, konnte er so manches Geheimnis ergründen, er zeigte sich geistig sehr beweglich, witzig und spritzig. Sie waren dann befreundet. Walter Arnold, Jahrgang 1909, war der Dritte, ein Bildhauer. So erhielt er eine weitgefächerte Ausbildung. Der Abend dämmerte, wir wurden für ein nächstes Mal eingeladen.
Heidelore Kneffel