Vortragsabend des Geschichts- und Altertumsvereins

Die IFA und die Raketen

Donnerstag
12.10.2023, 11:47 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
So voll war es lange nicht im Nordhäuser Tabakspeicher: 82 Gäste aus (fast) allen Altersgruppen hatten sich im Museum eingefunden, der Hauptraum war buchstäblich bis in die letzte Ecke gefüllt. Anlass war der Vortrag zum sowjetischen Geheimprojekt,, Institut Nordhausen“ von Dr. Werner Steinmetz...


"Die unmittelbare Nachkriegszeit ist im kollektiven Bewusstsein heute wie im Nebel verschwunden.“ Dieses Zitat des Historikers Axel Schildt gilt im besonderen Maße für einen Aspekt der frühen sowjetischen Besatzungszeit im Südharz: Das Streben Stalins, an die Raketenproduktion der Nazis im Lager Mittelbau Dora anzuknüpfen.

Da die Befreiung des KZ bekanntermaßen durch die Amerikaner geschehen ist, sind sie es, denen die 110 verbleibenden Aggregat-4-Raketen (V2) und die gesamte Dokumentation der Nazis in die Hände fallen. Entsprechend groß ist der sowjetische Aufwand, den rüstungstechnischen Anschluss nicht zu verlieren. Entsprechend groß ist auch das Ausmaß der Geheimhaltung. Dr. Steinmetz rekonstruiert zunächst das Geschehen wie folgt:

Am 05. Juli 1945, vier Tage nach der Besetzung Thüringens durch die Rote Armee, wird die Produktionsstätte Mittelwerk im Kohnstein entdeckt. Kurz darauf treffen die sowjetischen Raketeningenieure Tschertok, Isajew und Koroljow mit dem Ziel ein, die Baupläne der Waffen zu rekonstruieren. Zu diesem Zweck wird in Bleicherode das Institut RABE gegründet. Sowjetische "Head Hunter“ spüren in der Folge deutsche Raketenexperten auf, welche im Institut verpflichtet werden, so etwa Dipl.-Ing. Helmut Gröttrup. Sie erfahren Vorzugsbehandlungen: Wohnungen, hohe Gehälter und Sonderverpflegung sollen die Loyalität der Spezialisten sichern. Natürlich ist das Erkenntnisinteresse der Sowjets kein theoretisches: Zur Herstellung eigener Waffen entstehen Werke in Sömmerda, Kleinbodungen und Sondershausen. Für die Zukunft am wichtigsten sollte aber das Werk 2 in Nordhausen werden, die ehemalige Montania und künftige IFA. Ende 1946 arbeiten hier 5.975 (!) deutsche und 733 sowjetische Ingenieure.

Am 21. Oktober 1946 ist die Dokumentation der A4 rekonstruiert. Das wird gefeiert. Am nächsten morgen um 5.30 Uhr werden 175 deutsche Spezialisten aus dem Schlaf gerissen und erfahren von Geheimdienstoffizieren, dass ihre Deportation in die UdSSR unmittelbar bevorstehe. Diese Verschleppung ist Teil der Aktion "Ossoawiachim“, von welcher in der Sowjetischen Besatzungszone schätzungsweise 10.000 Fachleute aus sämtlichen Bereichen betroffen sind. Von den aus Nordhausen Deportierten kommt ein Teil auf die einsame Insel Gorodomlja, der andere nach Podlipki in der Nähe Moskaus. Hier erfolgt nun die eigentliche Montage der Waffen. Nachdem beim ersten Versuch die Rakete ihr Ziel um zweihundert Kilometer verfehlt, gelingt am 29.10.1947 ein erfolgreicher Start. Stalin hat seine Waffe. Doch erst 1953 kehren die letzten nach Gorodomlja verschleppten,, Insulaner“ nach Deutschland zurück. Und die Produktionsstätte in Nordhausen? Die Produktionsanlagen im Montania-Werk 2 werden abtransportiert, die Gebäude teilweise gesprengt.

Damit endet der Vortragsteil des Abends, an den sich ein weiterer Höhepunkt anschließt: Die Vorführung eines Films mit originalem Bildmaterial aus sowjetischen Beständen, in deutscher Sprache unter Leitung von Dr. Steinmetz neu synchronisiert. Der etwa einstündige Film zeigt detailliert den Entwicklungs- und Produktionsprozess der V2 und die Weiterführung der Raketenforschung und -produktion unter sowjetischer Ägide. Er enthält einmalige Bilder aus den beteiligten deutschen und sowjetischen Werken, darunter natürlich auch solche aus der Nordhäuser Montania.

Die Erwartungen der Zuschauenden hat der Referent also souverän befriedigen können.
Marie-Luis Zahradnik