Aufgeschrieben

Wahlgedanken - ganz privat

Sonnabend
23.09.2023, 12:00 Uhr
Autor:
psg
veröffentlicht unter:
Nun, da der Wahlmarathon um den Chefsessel im Nordhäuser Rathaus kurz vor der Zielgeraden ist, will ich vielleicht auch meine Wahlgedanken unter die geschätzte Leserschaft dieser Online-Zeitung bringen. Wie die Wahlgedanken meines geschätzten Kollegen Angelo Glashagel, werden auch diese dem einen oder anderen Leser nicht gefallen. Aber das ist gut so...


Kennen Sie Ralph Nathaniel Twisleton-Wykeham-Fiennes? Ja, nein, vielleicht, schon mal gehört oder gelesen? Bei mir traf und trifft letzteres zu. Der 1962 geborene Brite ist Schauspieler und verkörperte in dem für mich Film des vorigen Jahrtausend "Schindlers Liste" Amon Göth, den Kommandanten des KZ Plaszow bei Krakau. Nach dem Nippen am morgendlichen Kaffee griff er zum Karabiner und erschoss einen Häftling. Oder auch mal zwei.

Seit ich den Spielberg-Film das erste Mal sah, war dieser Amon Göth für mich all das, was die Kategorie Faschist, Nazi, menschliches Ungeheuer und was weiß ich noch hergeben konnte. Das war Ende der 1990er Jahre. Seit dem habe ich den Film vielleicht 100 Mal gesehen und jedes Mal möchte ich, dass ich mein Herz für 15 Sekunden mal nicht schlagen höre, als zum Ende hin hunderte Menschen in eine Gaskammer eingesperrt wurden und dann - statt des kristallinen Todes - erlösendes Wasser aus den Duschen kam.

Nie hätte ich in den danach folgenden Jahren gedacht, dass ich in diesem Land, ja in diesem seit 1992 zu meiner zweiten Heimat gewordenen Nordhausen wieder Faschisten und Nazis treffen würde. Vor allem nicht in diesen durchaus bewegten Zeiten unseres kleinen Gemeinwesens.

Doch ich treffe sie - die Nazis, die Neonazis, die Faschisten. So jedenfalls werden mitten in Nordhausen Menschen bezeichnet. Von anderen Menschen. Nur weil sie ein Parteibuch in der Tasche haben, das sie als Mitglieder der AfD ausweist. Und nun "erdreistet" sich noch solches Mitglied für den Job des Oberbürgermeisters zu kandidieren. Ist Jörg Prophet ein Faschist? Ein Nazi? Für mich steht ein klares Nein.

Für mich hat die inflationäre Benutzung dieser Beifügungen eine bedrohliche Dimension angenommen. Ja, da ist der Herr Höcke aus dem Eichsfeld, den man laut eines Gesichtsbeschlusses Faschist nennen darf. Doch sind es all die anderen Mitglieder des AfD-Kreisverbandes Nordhausen (dessen Chef übrigens nicht Björn Höcke, sondern Andreas Leupold heißt) nun auch Faschisten oder Neonazis? Sie werden, ob die Absender dieser Ausdrücke es wollen oder nicht, auf eine Stufe mit Amon Göth gehoben. Faschist ist Faschist, der eine war ein brutaler Schlächter, ein Sadist, der andere lebt mitten in Nordhausen, hat mit seiner Frau zwei Unternehmen gegründet und "erdreistet" sich, künftig die Geschicke dieser Stadt leiten zu wollen. Ist das die Intention all derer, die in Empfehlungen, Aufrufen, Videos, auf Facebook und Co. alle Nordhäuserinnen und Nordhausen, die den AfD-Kandidaten wählten und wieder wählen werden, als Undemokraten, ja vielleicht (unausgesprochen) als Nazis abzustempeln?

Der Blick zurück
Immer, wenn eine neue politische Kraft in deutschen Landen die Polit-Bühne betritt, dann ist der Aufschrei des bisherigen Establishments medial stark wahrnehmbar. Es ist eine Mischung aus Grollen und Heulen. Das war mit den Grünen in den 1980er Jahren so. Was hat man denen nicht alles an den politische Hals geworfen? Womöglich hätte man einigen bildlich die Schlinge darum gelegt. Die Folge all dieses Aufbegehrens: 1998 wurde Joschka Fischer deutscher Außenminister, dann allerdings ohne Turnschuhe.

Mit der Wiedervereinigung zogen die ersten PDS-ler in den Bundestag sowie in die ostdeutschen Landtage ein. Auch in die kommunalen Gremien (Stadtrat und Kreistag sind keine Parlamente) kam Bewegung nach der Wende. Auch dort waren "Kommunisten" mit an Bord. Ich erinnere mich genau an das Verhalten derer, die einige Jahre danach sogar mit den Kommunisten koalierten. Da konnten die demokratischen Sozialisten noch so gute Anträge einbringen, sie hatten keine Chance. Bündnis90/Grüne, CDU, SPD und FDP stimmten permanent dagegen. Das Ergebnis: Seit 2014 regiert in Thüringen ein Linker Ministerpräsident. Wiederholt sich Geschichte wirklich?

Wenn das so sein sollte, dann erleben wir das aktuell. Nicht nur in Nordhausen übrigens, in den Ländern und auch im Bund. Denn 23 Prozent für die AfD bei den bundesweiten Sonntagsumfragen, die kann man nicht so einfach wegwischen. Allerdings, die Antworten darauf sind immer gleichen - eine historische Wiederholung sozusagen. Die Frage nach dem "warum" wird selten gestellt und wenn ja, dann pauschal beantwortet: Alles Nazis, alles Faschisten. Ganz einfach: Schublade auf, rein damit und zugeschlossen.

Und da ist noch ein politischer Reflex. Beispiel Wahlkampf-Theater der AfD heute vor einer Woche. Die Reaktion: wer sich mit der Nazipartei gemein macht, wer also als interessierter Mensch sich das einfach ansehen wollte, der ist auch Nazi. Historischer Vergleich: Als für vor Jahren die Irrlichter des III.Weges durch Nordhausen marschierten, da formierte sich das Bündnis gegen Rechts und postierte sich an der Ecke Weberstraße/Taschenberg. Vorn die bekannten Frauen und Männer der Nordhäuser Zivilgesellschaft, einige Reihe dahinter tönt der Schlachtruf der Antifa: "Deutschland verrecke!" Haben die Frauen und Männer der ersten Reihe, ich könnte die Namen aufzählen, sich von diesem Treiben distanziert oder kann man ihnen Verständnis und Zustimmung unterstellen, dass Deutschland durchaus verrecken soll?

Genug mit dem Rückblick: Morgenabend ist diese Wahl - so aufregend sie denn auch war - Geschichte. Es wird höchstwahrscheinlich einen Sieger geben. Wenn man all diesen Empfehlern, Ansagern, Hinweisgebern, Auffordernden glauben schenken soll, dann könnte sich - unter gewissen Umständen - die kleine Nordhäuser Welt aufhören zu drehen. Ich kann sie beruhigen, sie dreht sich weiter. Die Frage ist nur: So wie in den zurückliegenden sechs Jahren oder mit neuen Ansätzen und neuen Ideen? Mit dem Versuch, die Verwaltung wieder zu dem zu machen, für das sie eigentlich ist: eine Verwaltung für das Gemeinwesen, dass sich Stadt Nordhausen nennt und nicht für eine Verwaltung ihrer selbst.

Ich habe gewählt, so wie ich dass seit meinem 18. Lebensjahr gemacht habe. Über die Sinnhaftigkeit der Wahlen im vergangenen System muss nicht diskutiert werden. Im neuen, im erlebbar demokratischen System, habe ich immer die Ränder gewählt. Bis 2014 war es links (keine Angst nicht die MLPD), danach rechts (auch hier keine Angst, nie und nimmer die NPD). Wobei ich in diesen Zeiten nahezu täglich darüber nachdenke, warum der Begriff LINKER irgendwie positiv besetzt ist und das RECHTE immer das Negative ist.

Bei Wahlen zum Landrat oder Oberbürgermeister stand nie die Partei- oder Lagerzugehörigkeit im Mittelpunkt meiner Entscheidung. Hier geht es um Personen. Um Menschen, die vielleicht in ihrem Leben auf der Suche nach einem politischen Anker waren und ihn gefunden haben. Oder um Menschen, denen jegliche Politik egal ist. Soll es geben. Ich habe aus zutiefst persönlichen Motiven meine Wahlentscheidung getroffen. Menschen, die mich kennen und die ich voller Stolz als Freunde bezeichne, wissen, was mit den Motiven gemeint ist.

Aber es treibt mich auch ein wenig Sorge um: Was wird ab Montag sein? Wie gehen wir hier in Nordhausen weiter miteinander um? Ist derjenige, gegen den sich alle Aufrufe, Empfehlung, Anregungen richten, dann der Aussätzige? Oder akzeptieren wir gemeinsam das Ergebnis dieser Wahl, die hoffentlich nicht rückgängig gemacht wird? Egal wer sie gewonnen hat. Es geht immer um Personen? Es geht um mehr, es geht um Menschen, denen man die Würde nicht absprechen kann, weil sie nun mal unantastbar ist. Die Respekt verdienen und denen man - wenn es die Situation erfordert - auch die Hand geben kann. Das, was Hannichen Vogelstange da jüngst von sich gegeben haben soll, das ist meiner Meinung nach unter der Gürtellinie. Das - mit Verlaub - gehört sich nicht.

Ideologie vor Empathie
Eines muss ich noch loswerden und: es betrifft wieder mal die Sozis. Sie schickten - vermutlich auf Vorschlag eines einzelnen Genossen - schon sehr frühzeitig Alexandra Rieger ins Wahlrennen. Ich hatte in mehreren privaten Gesprächen davor gewarnt. Nicht, dass ich etwas gegen Frau Rieger auszusetzen habe, nein der Zeitpunkt (ein Jahr nach ihrer Wahl zur Bürgermeisterin) erschien mir zu verfrüht. Nun kam es wie es kommen musste (Die zurückliegenden Monate hätten durchaus das Zeug für eine Folge von House of Cards gehabt.) Frau Rieger verlor die Wahl. Und was macht ihre Partei, die sie eigentlich auffangen, trösten und wieder aufbauen sollte? Der Chef der Thüringer SPD, Georg Maier, empfiehlt die Wahl des Kandidaten, der - so die Unterlagen zum Disziplinarverfahren gegen den kandidierenden Amtsinhaber - die Bürgermeisterin seit ihrem Amtsantritt mutmaßlich gemobbt haben soll? Das ist für mich menschlich das Letzte, auch das muss mal geschrieben werden.

Wer es noch nicht getan hat, der sollte es tun: Nämlich wählen gehen. Wer diese bürgerliche "Qual" auf sich nimmt, der trägt mit Verantwortung für dieses kleine Gemeinwesen, dass seit 1992 auch meine Heimatstadt geworden ist.
Peter-Stefan Greiner