Wie regionale Unternehmer Fachkräfte gewinnen wollen

Die tägliche Bahnfahrt überflüssig machen

Mittwoch
02.08.2023, 07:00 Uhr
Autor:
osch
veröffentlicht unter:
An jedem ersten Tag des Monats lädt die Nordthüringer Agentur für Arbeit an einen anderen Ort zur Pressekonferenz, um die aktuellen Zahlen zu erläutern und ein örtliches Unternehmen vorzustellen. Heute trafen sich die Akteure in Mühlhausen im Hotel, wo es neben vielen Fakten auch interessante Einblicke gab …

Jens Ritter, Andreas Schreiber, Roberto Raethel und Karsten Froböse diskutieren Ausbildungschancen in Nordthüringen (Foto: oas) Jens Ritter, Andreas Schreiber, Roberto Raethel und Karsten Froböse diskutieren Ausbildungschancen in Nordthüringen (Foto: oas)

Im Podium saßen drei Herren, die kompetent und eloquent über die Probleme der Gastronomiebranche im Speziellen und der Ausbildung von Fachkräften im Allgemeinen referieren konnten. Doch zuerst erläuterte Agenturchef Karsten Froböse eine Entwicklung, die von gestiegener Arbeitslosigkeit und erhöhtem Fackräftebedarf geprägt ist. So paradox das klingt, ist dieser scheinbare Gegensatz mit der Anzahl geflüchteter Ukrainer und einer schwächelnden Konjunktur einerseits und dem immer stärker durchschlagenden demografischen Wandel andererseits erklärbar. Der Unstrut-Hainch-Kreis als einer der vier erfassten Bereiche, steht mit einer Arbeitslosenquote von 7,5 Prozent noch gut da in Vergleich zu den anderen Nordthüringer Kreisen, hat aber um 11,1 Prozent mehr Arbeitslose als im Vergleich zum Vorjahreszeitraum und damit deutlich zugelegt. (Wir berichteten) Mit 143 in Lohn und Brot gebrachten Ukrainern gegenüber 56 im vergangenen Juli steht der Kreis aber klar an der Spitze bei der Vermittlung von Flüchtlingen aus dem osteuropäischen Land.

Froböses Botschaft war heute eine klare und eindeutige, die er hauptsächlich an die Schüler und jungen Leute im Norden des Freistaates richtete: „Es sind Jobs da, es sind vielfältige Ausbildungschancen da, auf einen Bewerber kommen teilweise zwei mögliche Angebote.“ Wurde im letzten Jahr der Bedarf an Fachkräften mit 2.885 beziffert, so liegt er heute in Nordthüringen mit 2.799 nur wenig unter dem Vorjahrswert. Daraus schließt der Agenturleiter, dass „wir um die ausländischen Fachkräfte wohl nicht herum kommen“ werden. Gezielt würde in Ländern wie Vietnam, Usbekistan und Kasachstan gesucht, ob nun LKW-Fahrer, Mitarbeiter im Gesundheitswesen oder eben auch für die Gastronomie.

Der „Tag in der Praxis“, den inzwischen 13 Regelschulen im Agenturgebiet mit einheimischen Unternehmen durchführen, ist ein weiterer hoffnungsvoller Ansatz. Wie auch die Zusammenarbeit mit der Nordhäuser Hochschule, um die hier ausgebildeten ausländischen Absolventen nach Möglichkeit in der Region zu halten.

Roberto Raethel, Geschäftsführer von vier Mühlhäuser Hotels, lobte den Ansatz mit dem praxisbezogenen Tag für die Schüler und betonte die Wichtigkeit, heutzutage mit allen verfügbaren Mitteln auf das eigene Unternehmen aufmerksam zu machen. Was ihm Kopfzerbrechen bei der Azubi-Gewinnung bereitet ist die unterschiedliche Vergütung, die lernende Jugendliche erhalten. Sie stellt seiner Meinung nach teilweise ein Kriterium für die Berufswahl dar. „Dabei fangen doch alle Lehrlinge am ersten Ausbildungstag mit den gleichen Voraussetzungen an. Aber wenn beispielsweise staatliche Unternehmen schon im ersten Lehrjahr bis zu 400 Euro mehr Vergütung bezahlen, wird es für unsere Branche mit einer geringen Gewinnmarge schwierig mitzuhalten.“ Dabei hätten junge Menschen in der Hotellerie gute Chancen, sich vorteilhaft zu entwickeln und durch die Vielfalt der Aufgaben zu echten Persönlichkeiten zu reifen. Voraussetzung sei nur das nötige Herzblut und eine Passion für diese Art von Dienstleistung zu entwickeln. Auf Berufsmessen präsentiert sich der Mühlhäuser Unternehmer regelmäßig und erweckt dort auch Interesse für seine Einrichtungen. Von einhundert geführten Gesprächen sind es dann etwa acht Interessenten, die noch einmal nachhaken, allerdings am Ende nur zwei bis drei Jugendliche, die wirklich in eine Ausbildung einsteigen wollen.

Andreas Schreiber, regionaler Vertreter des Bundesverbandes der mittelständischen Wirtschaft, sieht die Problematik ähnlich. „Ich möchte, dass wir hier vor Ort Berufsbildungsmessen mit regionalen Unternehmen veranstalten, um die jungen Menschen in der Region zu halten.“ Eine Messe in Erfurt, auf der die Bundeswehr oder andere staatliche Unternehmen werben, helfe dem Nordthüringer Raum nicht. Die geplante Verlegung der Hotelfachschulklasse nach Gotha wäre ein Katastrophe gewesen, meint Schreiber, denn die Lehrlinge wären für die Region verloren gewesen. „Ein Mühlhäuser Lehrling kann nicht morgens um 8 Uhr in Gotha zum Unterricht erscheinen. Das ist mit unserem Personenbeförderungssystem bei der Bahn logistisch unmöglich“, erklärte Schreiber.

Der dritte Fachmann im Bunde schloss an die Ausführungen seiner Vorredner nahtlos an. Jens Ritter ist Leiter der größten Berufsschule im Landkreis und Diplom-Handelslehrer für Wirtschaft, Verwaltung und Politik. Besonders mit der Bildungspolitik des Freistaates hadert er momentan und kritisiert das gesteuerte Berufsbildungssystem, das nicht auf regionale Besonderheiten achte, sondern sie ganz im Gegenteil übergehe. Vor allem müsse das Nordthüringer Schulnetz dringend erhalten werden, wenn es nicht noch weniger Berufsschüler werden sollen. Hier seien regionale Ansätze gefragt, die örtliche Behörden, Institutionen und Betriebe zusammenführen müssen und die zahlenmäßigen Klassenstärken dürften kein Dogma mehr sein. „Die Berufe, die wir ausbilden, müssen in der Region angeboten werden“, sagte Ritter. Und er fügte augenzwinkernd hinzu: Wenn eben zukünftig Wärmepumpeneinbauer gefragt wären, dann müsse in dieser Richtung ausgebildet werden.

Abschließend brach Roberto Raethel noch einmal eine Lanze für seine Profession und verwies auf die bestehenden Schwierigkeiten nach Corona-Ausfällen und Veränderungen in den Sozialleistungen, die es immer schwerer machten, Mitarbeiter für die Gastronomie zu begeistern. Besonders den steigenden Mindestlohn sieht er als Gefahr, dass noch mehr Gastronomiebetriebe aufgeben müssen in der nächsten Zeit. Die Berufsbilder haben sich verändert, bemängelte Raethel, und die Ansprüche der Ausbildung sind weiter gesunken. Auch deshalb werbe er für die Ausbildung zum Hotelfachmann bzw. -frau, denn hier gäbe es viele Möglichkeiten, sich zu entfalten. Ob als Handwerker in der Küche, im Management, der direkten Dienstleistung am Gast oder mit einem späteren Studium: vieles sei möglich.

Die Nordthüringer Kreise müssen enger zusammenarbeiten, die dualen Ausbildungsmöglichkeiten verbessert und die Anwerbung ausländischer Fachkräfte konzentriert und regional betrieben werden. „Wir organisieren uns den Misserfolg selbst, wenn wir ausländische Azubis in den Kreis holen und sie dann per Bahn nach Gotha in die Schule schicken. Das schafft ja momentan ein Einheimischer kaum“, resümierte Andreas Schreiber.

Probleme gibt es offensichtlich derzeit genug, nicht nur in der Gastronomiebranche. Aber mit den drei zitierten Herren und ihren Vorstellungen gibt es auch viel know how und eine ganze Reihe Ansätze, sie zu lösen. Die Agentur für Arbeit kann dabei ein wichtiger und hilfreicher Partner sein.
Olaf Schulze