Sarah Kirsch wird im April 88 Jahre

Die Dichterin als Übersetzerin

Sonntag
19.03.2023, 14:54 Uhr
Autor:
red
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Als die Dichterin Sarah Kirsch Anfang Juni 1997 einige Tage in die Gefilde kam, wo sie am 16. April 1935, als der Stummfilmstar Charlie Chaplin seinen 46. Geburtstag feierte, im oberen Stockwerk des Pfarrhauses von Limlingerode geboren wurde mit dem Rufnamen Ingrid, sah sie das Fachwerkhaus außen und innen in einem bedauernswerten Zustand auf dem Hügel oberhalb der Kirche stehen...

Wann würde man es abreißen lassen müssen? Darum ihre bange Frage, oft mündlich und schriftlich wiederholt: „Bleibt es?“
Sarah Kirsch schlief bei mir und so erlebte ich, wie sie nach dem Abendbrot in ihr Zimmerchen verschwand, um in ihrem Tagebuch das Erlebte nachklingen zu lassen und es in der Frühe fortführte. Dazu hörte man leise Musik vom mitgebrachten Radio. Sie bezeichnete das so: „Ich führe mein Journal hier getreulich. Am liebsten sehr früh in der Frühe, im Nichtmehr und Nochnicht.“
Als sie in Halle Biologie studierte, lernte sie den Dichter Rainer Kirsch, 1934-2015, kennen. Lesen gehörte schon seit Kindheitstagen zu ihrer Leidenschaft, vorwiegend in Prosa. Jetzt lernte sie jemanden kennen, der in Versen schrieb. Aber, die sozialistischen Funktionäre in Halle fanden sein Schreiben zu eigenständig, so zog er sich ihren Zorn zu, musste also in die Produktion. „Die Arbeitswelt als Strafkolonie – wassen komplizierter Gedankengang fürn Arbeiterstaat.“ Er wurde also „wegen Rilkescher Gedichte, die er ja schrieb, reglementiert relegiert, nun kletterte sein Kurs an meiner Börse …“ Ingrid Kirsch, wie sie nach ihrer Verheiratung hieß, wollte sich nun auch der Dichtkunst zuwenden. Sie lernte in Halle Anfang der 1960er Jahren den Autor Gerhard Wolf, 1928-2023 kennen, der mit seiner Frau Christa von Jena nach Halle gezogen war. In seiner regelmäßig stattfindenden Arbeitsgemeinschaft erfuhr sie sehr Hilfreiches über das Verseschmieden. Als Sarah Kirsch veröffentlichte sie anfangs in Zeitungen ihre Arbeiten, die sich früh dem Erhalt der Erde widmeten.

Ein nächster Glücksumstand für ihr Dichten war es, dass sie 1964 den Slawisten, Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Herausgeber Fritz Mierau, 1934-2018, begegnete. Er wollte eine Anthologie neuer sowjetischer Lyrik herausgeben mit dem Titel „Mitternachtstrolleybus“ und suchte unter den vielversprechenden jungen Lyrikern und Lyrikerinnen in der DDR Nachdichtende für dieses Projekt. Für diese erwies es sich als günstig, dass man dabei guter Dichtkunst nahekam und dafür auch eine Bezahlung erhielt. Sarah und Rainer Kirsch waren darunter. Wenn Mierau der Herausgeber war, wussten Eingeweihte, da wurden profunde Gedicht geboten, denn dieser Mann kannte sich aus in der Dichtkunst in russischer Sprache wie kaum ein Zweiter.

Fritz Mierau trägt in Limlingerode über Alexander Blok vor (Foto: H.Kneffel) Fritz Mierau trägt in Limlingerode über Alexander Blok vor (Foto: H.Kneffel)


Er erforschte mit Intensität u.a. das Leben und die Dichtkunst der Anna A. Achmatowa, 1889-1966, der Marina I. Zwetajewa, 1892-1941 Selbstmord, des Alexander A. Blok, 1880-1921, des Sergej A. Jessenin, 1895-1925 Selbstmord, des Ossip E. Mandelstam, 1891-1938 im Lager umgekommen, mit großer Gründlichkeit und Leidenschaft und ließ sich dabei in der DDR nicht beirren. Er hatte seine Lebensprinzipien, von denen er auch in schwierigen Situationen nicht abließ. Seine Studien waren gründlich und nicht wirklich zu widerlegen.

Dank Sarah Kirsch lernten die Mitglieder des Fördervereins „Dichterstätte Sarah Kirsch“ und die Besucher aus nah und fern Mierau und seine Frau persönlich in Limlingerode kennen, er hielt mehrere Vorträge über die oben genannten Poeten des sogenannten „Silbernen Zeitalters der russischen Literatur“, von Sarah Kirsch und ihren Mitlyrikern ins Deutsche übertragen. Mehrere der uns vorgestellten Personen waren mit ihren Ansichten in der Sowjetunion so verfemt, dass sie dafür mit ihrem Leben bezahlten.
Der nächste, der die Kirsch zum Nachdichten bewegen konnte, war der mit ihr befreundete Schriftsteller Franz Fühmann, 1922-1984. Sie sollte den Band „Sagen und Epen der Welt“ mit dem „Lied von der Heerfahrt Igors“, einem alten russischen Heldenepos aus dem 12. Jahrhundert, bereichern. Herausgekommen ist es in prächtiger Aufmachung. Nun hatte sie dafür einen berühmten Vorgänger, Rainer Maria Rilke, 1875-1926, der „Das Igor-Lied - eine Heldendichtung“, ins Deutsche übertragen hatte. Er besuchte zwei Mal Russland und erlernte die russische Sprache. Sarah Kirsch verwandte ihre Textübertragung noch einmal in ihrer „Tatarenhochzeit“, uns gewidmet als „ein historischer Roman“, denn sie beschrieb darin ihr Leben ab Mitte der 1970er Jahre. Es erklang auch in Limlingerode.

„Das fliegende Regenschirmchen“, reich illustriertes Kinderbuch aus Bulgarien (Foto: H.Kneffel) „Das fliegende Regenschirmchen“, reich illustriertes Kinderbuch aus Bulgarien (Foto: H.Kneffel)


Das Ende der Veranstaltung geht dann in ein farbenfroh gestaltetes Kinderbuch über, von der Kirsch aus dem Bulgarischen übersetzt, das wir aus Bad Langensalza geschenkt bekamen: „Das fliegende Regenschirmchen“. Im Geburtshaus der Dichterin hätten mehr Kinder die Möglichkeit, die Geschichte kennenzulernen. Ein Junge spielt leidenschaftlich Akkordeon und wohnt mit seiner Oma und mehreren Haustieren nahe des Waldes. Das gute Einvernehmen wird vom Fuchs und vom Wolf stark gestört. Aber, das Gute siegt.

Für mich war die Erarbeitung dieses Programmes wie immer, wenn man für das Geburtshaus Sarah Kirschs kulturell tätig ist, eine wahre Fundgrube, an deren Ergründung ich am 25. März ab 14.30 Uhr gern Gäste teilhaben lassen möchte.
Heidelore Kneffel