Tag in der Praxis und Seminarfachmesse

Zwei Messen, ein Ziel

Freitag
11.11.2022, 14:00 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
Gut ausgebildeter Nachwuchs gehört zu den begehrtesten Ressourcen, in fast allen Bereichen wird der „Kampf um die Köpfe“ ausgefochten. Die Entscheidung wo die Reise hingeht, liegt am Ende bei den Schülerinnen und Schülern und um deren „Findungsphase“ leichter und kürzer zu gestalten, gab es in Nordhausen diese Woche zwei unterschiedliche Ansätze zu beobachten…

Seminarfach- und Mini-Berufsmessen im Landkreis  (Foto: agl) Seminarfach- und Mini-Berufsmessen im Landkreis (Foto: agl)


Egal wohin man blickt, es fehlt an qualifiziertem Nachwuchs. Die Polizei sucht genauso geeignete Kandidaten wie die Medizin dringend neue Ärzte braucht, die Schulen neue Lehrer oder der Automobilzulieferer neue Mechatroniker. Dass sich der Nachwuchs mit der Findungsphase Zeit lässt und das eine oder andere mal falsch abbiegt, dass können sich Wirtschaft und Gesellschaft im Moment eigentlich nicht leisten.

Der Gedanken, Schule und Wirtschaft näher zueinander zu bringen ist da nicht neu, die Mittel und Wege das zu erreichen zu Weilen aber schon. Im Landkreis ließen sich diese Woche zwei dieser Methoden mit sehr unterschiedlichen Ansätzen beobachten.

Ein Tag in der Praxis
Der jüngere und doch irgendwie alte Ansatz ist die Aktion „Tag in der Praxis“ (TIP). Über das Schuljahr verbringen Schülerinnen und Schüler der 8. und 9. Klassen jeweils einen Tag pro Woche in der beruflichen Praxis und lernen über das Jahr so vier unterschiedliche Unternehmen kennen. Die Qual der Auswahl liegt dabei sowohl bei den Schülern wie auch den Unternehmen. Letztere präsentieren sich auf sogenannten „Mini-Messen“ direkt in den Schulen, Erstere müssen sich für ihr Wunsch-Praktikum bewerben.

Angelehnt ist der Ansatz an den „polytechnischen Unterricht“ aus DDR Tagen und findet sowohl bei den Schulen wie auch den Unternehmen großen Anklang. In drei Nordthüringer Landkreisen wird der „Tag in der Praxis“ aktuell in seiner zweiten Runde angeboten und im Pool der Interessierten finden sich bereits über 330 Unternehmen. Rund 30 davon präsentieren sich heute in der Regelschule Hainleite in Wolkramshausen. Hier hat man auch gleich die 9. und 10. Klassen eingebunden, die zwar nicht mehr am „Tag in der Praxis“ teilnehmen, aber kurz vor dem Haupt- oder Realschulabschluss stehen. Die kleine Messe in der vertrauten Umgebung mache es den Schülern leichter, auf die Unternehmen zuzugehen. Mit Fragebogen und Stift bewaffnet zogen die also durch das Haus und auch die Versorgung hatten die Schüler selber in die Hand zu nehmen.

Am Dienstag fand die "TIP" Messe bereits in der Ellricher Regelschule statt (Foto: agl) Am Dienstag fand die "TIP" Messe bereits in der Ellricher Regelschule statt (Foto: agl)


Bereits am Dienstag hatte die Ellricher Regelschule ihren Einführungstag durchgeführt. „Für die Schülerinnen und Schüler der 8. Klasse unserer Oberschule war die Messe ein großer Schritt in der beruflichen Orientierung und eine Stärkung der Motivation im Lernen.“, freute sich Schulleiterin Carola Böck, im eigenen Haus ist „TIP“ ein Zusatz, da man schon in der Vergangenheit Praktika-Tage eingeführt hatte. Aber man sei immer offen für weitere Kooperationen und freue sich auf die intensive Zusammenarbeit, so Böck.

Neben den Nordhäuser Schulen wird „TIP“ auch in Aschara, Mühlhausen, Bischofferode und Artern durchgeführt. Neu in der zweiten Runde ist, dass man den Kreis der teilnehmenden Schulen auch in den ländlichen Raum ausdehnen und die damit verbundenen logistische Fragen klären konnte. Anfragen gebe es viele, sogar aus dem benachbarten Niedersachsen, das Modell sei zwar noch im Projektstatus, schlage aber Wellen, meinte Meike Bauermeister vom Arbeitgeberservice der Agentur für Arbeit. Unter den Interessenten sei auch ein Gymnasium, was ein gutes Zeichen dafür sei, dass man hier die Schüler weg vom Studium bringen könne.

Methodensicher in die höhere Bildung
Eine Aussage die man in einigen Wirtschaftsbereichen sicher hinterfragen würde. Was nicht heißen muss, das ein Praxisbezug auch in den Gymnasien nicht wünschenswert wäre, im Gegenteil. Arbeitskraft fehlt nicht nur in der Produktion, auch in dezidiert akademischen Bereichen kämpft man um die Köpfe angehender Ingenieure, Mediziner, Sozialarbeiter, Informatiker, Biologen, Chemiker oder Pädagogen. Und auch hier ist man bemüht, den Nachwuchs möglichst seine Zukunftsentscheidungen möglichst informiert treffen zu lassen.

Aufgabe der Gymnasien ist es denn auch nicht, den Nachwuchs auf den direkten Berufseinstieg, sondern auf den Schritt in die höhere Bildung vorzubereiten. In Thüringen geschieht das immer noch innerhalb von acht Schuljahren, anstatt wie in anderen Bundesländern über neun Jahre hinweg. Als Ausgleich für die verkürzte Schullaufbahn wurde bereits 2001 das „Seminarfach“ eingeführt. Ein Gruppe von Schülern muss sich eigenständig ein Thema aussuchen, Thesen dazu aufzustellen und diese unter wissenschaftlichen Betrachtungspunkten bearbeiten. Im Arbeitsumfang hat jedes Gruppenmitglied 10 bis 15 Seiten zu schreiben, die entsprechenden Recherchen sauber durchzuführen und zu dokumentieren, was in etwa einer soliden Hausarbeit im ersten Semester entsprechen sollte. Am Ende steht die Verteidigung vor Publikum. Wenn sie das Gymnasium verlassen und an Hochschulen und Universitäten wechseln, stehen die Thüringer Schüler dann nicht völlig planlos vor dem akademischen Betrieb, so der Grundgedanke.

Hinzu kommt, dass die Themen häufig über das hinausgehen, was in der Schule üblicherweise vermittelt wird. Zum System gehört neben einem Fachbetreuer aus dem Kollegium denn auch eine externe Betreuung, die üblicherweise aus der angewandten Praxis kommt. Nur sind die gar nicht für die jungen Leute gar nicht so leicht zu finden.

Hier kommt die zweite Messe ins Spiel, die Mitte der Woche in der Stadtbibliothek in Nordhausen stattfand. Die Gymnasien entsandten ihre Zehntklässler um in der „Seminarfachmesse“ Kontakte zu knüpfen und Unterstützer für ihre Themen zu finden. Medienpädagogin Claudia Ehrhardt-Weißenborn vom Schülerforschungszentrum der Hochschule hat etwa eine Arbeit zum Einfluss von sozialen Medien auf Psyche und Sozialverhalten von Jugendlichen betreut und Kollegen haben dem Nachwuchs bei Fragen der Ingenieurs- und Wirtschaftswissenschaften unter die Arme gegriffen. „Uns ist die saubere, wissenschaftliche Arbeit natürlich enorm wichtig, ein kurzer Blick ins Netz reicht als Quellenarbeit nicht aus“, sagt Ehrhardt, man leiste vor allem Unterstützung in der Grundlagenarbeit und gebe den einen oder anderen Hinweis zu Herangehensweise und man bringt neben Wissen auch Kontakte und „Vitamin B“ mit.

Ida und Hermine waren gestern in der Stadtbibliothek auf der Suche nach externen Fachbetreuern für ihre Seminarfacharbeit (Foto: agl) Ida und Hermine waren gestern in der Stadtbibliothek auf der Suche nach externen Fachbetreuern für ihre Seminarfacharbeit (Foto: agl)


So hat sich zum Beispiel Zehntklässlerin Hermine vom Humboldt-Gymnasium vorgenommen, ihre Arbeit zum Thema Kindesmisshandlung zu verfassen. Freundin Ida spielt mit dem Gedanken, Psychologie zu studieren und will auch ihr Seminarfach darauf ausrichten, hat aber noch kein konkretes Thema parat. Beide sind am Tisch des Kreisjugendrings bei Anja Barth und Sandra Ziegler-Koch gelandet, die sich als Träger der Jugendarbeit sowohl mit Kindeswohlgefährdung auskennen als auch über diverse Kontakte verfügen.

Das System Seminarfach habe sich bewährt, die Thüringer hätten trotz des achtjährigen Ansatzes im Vergleich hohe Abi-Schnitte und schon so mancher habe seinen Durchschnitt mit einem gut ausgearbeiteten Seminarfach nach oben drücken können, erzählt Lehrer Fred Wiegand. Für die Schüler sei es außerdem gut, den Kontakt nach „draußen“ zu bekommen und zu sehen was sich hinter den Annahmen zur Berufswelt verbirgt. Die erste „Messe“, die über die „Kommunale Netzwerkstelle Fachkräftesicherung“ des Landratsamtes organisiert wurde, brachte rund 180 Schülerinnen und Schüler sowie 13 Unternehmen aus der Region zusammen.

Auch hier versucht man also, Schule und Wirtschaft zueinander zu bringen und die Liste der interessierten Unternehmen hat deutliche Schnittmengen zwischen beiden Veranstaltungsformaten. Denn gekämpft wird am Ende um jeden Kopf, egal ob der nun eine Berufsausbildung absolvieren oder zum Studium gehen will. Gebraucht werden sie alle, jetzt und in Zukunft.
Angelo Glashagel