Über 600 Menschen versammelten sich in Langensalzas Altstadt

Zwischen fünf nach zwölf und eins

Montag
17.10.2022, 20:00 Uhr
Autor:
osch
veröffentlicht unter:
Zum zweiten Male kamen heute Einwohner aus Bad Langensalza und Umgebung auf dem Neumarkt zusammen, um gegen die Energiepolitik der Bundesregierung zu demonstrieren. Aufgerufen hatte der Bürger Reinz, der inzwischen deutschlandweite Popularität erlangt hat …

Protagonisten des heutigen Nachmittags: Petra Schnürch, Volker Pöhler, Matthias Reinz und Enrico Esche (Foto: oas) Protagonisten des heutigen Nachmittags: Petra Schnürch, Volker Pöhler, Matthias Reinz und Enrico Esche (Foto: oas)

Selbst die große linksliberale Wochenzeitschrift „Die Zeit“ hatte Journalisten in die thüringische Provinz geschickt, um das Phänomen friedlichen Protestes zu untersuchen. Und sie konnten wie wir auch feststellen: Es wird keinen politischen Umsturz in Deutschland geben, der von Bad Langensalza ausgeht. Einmal weil die Anmelder der Demonstration das nicht wollen und weil es andererseits auch gar nicht von den Kreisbehörden erlaubt wird. Denn vor der politischen Kundgebung kommen in Thüringen die amtlichen Bekanntmachungen und Auflagen.

So auch heute Nachmittag auf dem Langensalzaer Neumarkt, wo Versammlungsleiter Volker Pöhler die abstrusesten Vorschriften vortrug, die zu einer genehmigten Zusammenkunft zu beachten seien. Als da wären ein Alkoholverbot und das Mitführen von Flaschen, Reichskriegsflaggen, Dosen sowie Hunden. Fernerhin müsse am Versammlungsort ein Mindestabstand von 1,5 Metern eigehalten werden, andernfalls hätten sich die Teilnehmer einer medizinischen Mund-Nasen-Bedeckung zu unterziehen. Gelächter und Pfeifkonzert waren die Quittung für die alberne Ouvertüre eines ansonsten reibungslos und absolut friedlich abgelaufenen Nachmittags.

Die kurze Ansprache des Bürger(meister)s Matthias Reinz bekräftigte all das, was er beim letzten Male noch als Amtsperson gefordert hatte:
Entlastungspakete sind keine Lösung,
Nordstream 1 und 2 müssen geöffnet werden,
die drei AKWs müssen am Netz gelassen und zusätzlich neue, moderne gebaut werden,
eine diplomatische Lösung des Ukraine-Konflikts muss angestrebt,
die Waffenlieferungen an Kriegsparteien endlich eingestellt werden.

Dafür gab es tosenden Applaus der versammelten Bürger, die zahlenmäßig weniger waren als bei der Kundgebung im September, dennoch den Platz vor dem Rathaus gut füllten. Auffällig war, dass so wie von Reinz im Vorfeld gewünscht, keinerlei Parteizugehörigkeit zur Schau getragen wurde, was die Menge heute um eine erhebliche Anzahl blau gewandeter Demoteilnehmer verringerte, die im September noch dabei waren. Als einzige Flagge war im Zug eine Regenbogenfahne zu sehen, in die sich ein bärtiger Mann gehüllt hatte. Sonst keinerlei Winkelemente, auch von Reichskriegsflaggen keine Spur. (Verordnungswidrigerweise hielt sich jedoch ein Hund unter den Demonstranten auf! - siehe Fotogalerie)

Ehe er die beiden Redner des Tages ankündigte, vergaß Matthias Reinz nicht, einige Seitenhiebe gegen das Thüringer Innenministerium auszuteilen. Für das Anliegen der heutigen Versammlung wäre es kein Unterschied, ob ein Bürger oder ein Bürgermeister auf die katastrophale Situation aufmerksam mache. Erfurt sei es wohl ein Dorn im Auge, dass hier protestiert würde und man habe offenbar nicht verstanden, worum es den Menschen hier gehe. Anstatt sich mit bürokratischen Formalien zu beschäftigen sollte lieber an Lösungen gearbeitet werden. Die jetzt vom Land beschlossenen 400 Millionen Sondervermögen seien allerdings keine. Es sei zudem völlig unklar, wer mit wieviel davon bedacht würde. Das sei unbefriedigendes Herumdoktern an Symptomen, aber keinen Ursachenbekämpfung. War es im September bei der letzten Veranstaltung für die Stadt und ihre Gewerke noch fünf vor zwölf, so sei es heute fünf nach zwölf.

Der Bürgermeister erzählte, dass er deutschlandweit viele anerkennende und aufmunternde Botschaften von Kollegen, aus der Wirtschaft und sogar von Offizieren der Bundeswehr für sein Vorpreschen erhalten habe. Er kündigte unter dem Jubel seiner Mitbürger an, noch in dieser Woche einen Krisengipfel mit Vertretern der relevanten Infrastruktur der Stadt durchzuführen, um sich auf Eventualitäten im Winter vorzubereiten. Ein Schutzschirm für die Stadtwerke forderte er von der Berliner und der Erfurter Regierung, denn man käme an die Grenzen der Kommunalordnung, weshalb er auch eine Haushaltssperre habe verhängen müssen. Er habe, so seine klare Ansage ans Thüringer Innenministerium, einen Amtseid geleistet. „Lasst uns unsere Aufgaben erfüllen!“, rief er in Richtung Erfurt „und behindert uns nicht dabei.“

Die komplette Rede des Bürgers Matthias Reinz werden wir Ihnen in Kürze wieder exklusiv hier auf uhz online bereitstellen.

Der Bad Langensalzaer Neumarkt war wieder gut gefüllt  (Foto: oas) Der Bad Langensalzaer Neumarkt war wieder gut gefüllt (Foto: oas)

Als erster Gastredner trat der Bäckermeister Enrico Esche ans Mikrofon, der ein düsteres Bild vom deutschen Handwerk zeichnete. Seit der Corona-Krise habe er mit Preissteigerungen seiner Zulieferer zu kämpfen, jetzt flatterten wöchentlich Schreiben mit neuen Preisen auf seinen Schreibtisch. Er müsste die Verkaufspreise für seine Produkte eigentlich verdoppeln. „Bei all den guten Tipps, die ich aus der Politik höre“, sagte Esche unter großem Beifall, „ich kann kein Brot in der Sonne backen.“ Die Kostenexplosion bei den Gaspreisen sorgten dafür, dass sein Betrieb etwa so viel für Erdgas zahlen müsse wie 25 Privathaushalte. Ohne finanzielle Hilfen sei das nicht zu überstehen. Und die brauche er nicht in einem halben Jahr oder später, sondern genau jetzt. Wenn nicht sofort etwas passiere, würden wir demnächst nur noch von Industriebetrieben versorgt werden, die dann die Preise diktieren könnten, wie sie wollen. Der Mittelstand stirbt gerade. Für Esche sei es nicht fünf nach zwölf, sondern um eins. „Nehmen Sie sich endlich des Mittelstandes an“, forderte der Bäckermeister von der Politik. „Energie muss bezahlbar sein. Und wir brauchen keine Darlehen, die wir dann nicht mehr zurückzahlen können, wenn wir aufgehört haben zu produzieren. Wir wollen, dass Sie den Krieg in der Ukraine beenden und mit den Waffenlieferungen aufhören, die den Krieg nur verlängern!“

In die gleiche Kerbe schlug auch die zweite Rednerin, die pensionierte Lehrerin Petra Schnürch, die als Mutter und Großmutter Verantwortung für die folgenden Generationen verspüre. „Angst führt zu Wut“, sagte sie, „und ich erwarte, dass die Regierungen auf Landes- und Bundesebene endlich bemerken, welche Angst in der Bevölkerung herrscht.“ Sie sollen laut ihrem Eid Schaden vom deutschen Volke abwenden. Davon sei in der Berliner Koalition aber nichts zu spüren. Mit den Geschenken, die nachfolgende Generationen zurückzuzahlen hätten, funktioniere die Krisenbewältigung nicht. Das würde der Bevölkerung nicht wirklich helfen, kritisierte sie. „Wir müssen unsere Rechnungen jetzt bezahlen und nicht irgendwann, wenn entschieden worden ist, wer wofür wieviel Geld aus den Doppel-Wummsen bekommt.“ Es dürfe den nächsten Generationen nicht ein derartiger Scherbenhaufen hinterlassen werden. Abschließend rief sie ihren Mitbürgern unter deren Applaus zu: „Bleiben Sie dennoch besonnen, damit unsere Stadt lebenswert bleibt.“

Bevor es nach einer knappen Stunde zur Spazierrunde durch die Stadt ging, versicherte Matthias Reinz der aufmerksamen Menge: „Wir werden weiter demonstrieren und am Ball bleiben. In vier Wochen treffen wir uns hier wieder.“
Olaf Schulze