Oscar-Dokumentation „Colette“ erstmals in Nordhausen

Kurz und kraftvoll

Montag
10.10.2022, 14:10 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
75 Jahre lang übt sie sich im Vergessen, im hohen Alter will sie sich erinnern. Zusammen mit einer jungen Historikerin begibt sich die 90jährige auf Spurensuche und kommt nach Nordhausen. Die kurze aber kraftvolle Geschichte wurde als Dokumentation mit dem Oscar ausgezeichnet, gestern feierte man auch in Nordhausen Premiere…

Die an der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora gedrehte Dokumentation wurde mit dem Oscar ausgezeichnet und wurde gestern zum ersten Mal in Nordhausen gezeigt (Foto: agl) Die an der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora gedrehte Dokumentation wurde mit dem Oscar ausgezeichnet und wurde gestern zum ersten Mal in Nordhausen gezeigt (Foto: agl)


Im Krematorium ist die Kamera nicht dabei, die alte Dame und das junge Mädchen stehen alleine vor dem Hochofen. Nur das Mikrofon hat man ihnen mitgegeben. Es soll ein persönlicher Moment bleiben, einer ohne Kamera. Im Krematorium findet sich die letzte Station von Jean Pierre Catherine, einem jugendlichen Franzosen, der sich in der Résistance gegen die Nazis auflehnt und gefangen genommen wird. Die alte Dame ist Colette, seine Schwester, als ihr Bruder für immer verschwindet gerade einmal 14 Jahre alt. Die junge Frau ist Lucie Fouble, eine angehende Geschichtsstudentin, die Jean Pierre Schicksal für die Nachwelt aufschreiben will.

Es ist nur ein Name von 9.000 Franzosen, die durch die Hölle von Dora gehen mussten, nur einer von rund 60.000 Häftlingen die in den Stollen des Kohnsteins gelitten haben. Ein Name, der im großen Meer der Geschichte kaum ein Sandkorn ist. Doch hinter den Zahlen stehen Menschen, Geschichten, Biographien. Man wird das bald vergessen haben, denn diejenigen, die mehr erzählen könnten sind nur noch wenige.

Dabei braucht es nicht viele Worte, um die Vergangenheit aus dem Dunkel zu holen und eine Ahnung von dem zu geben, was Krieg und Tyrannei mit der Welt angestellt haben. Die Dokumentation, die der amerikanische Regisseur Anthony Giacchino aus der Reise von Colette und Lucie gemacht hat, zeigt das mit ruhigen aber kraftvollen Bildern und ohne großes Pathos. Das man zueinander gefunden hat, war dem Zufall geschuldet. Eigentlich sollte Giacchino Zusatzmaterial für ein Computerspiel zusammentragen und zu amerikanischen GI’s recherchieren. Sein Weg führt ihn nach Nordhausen und kurze Zeit später in die Normandie, wo er mit Colette bekannt gemacht wird. Im Gespräch verbinden sich die Punkte und die Idee für eine Dokumentationsreise wird geboren. Lucie Fouble gelangt mit ins Boot, weil sie für ein französisches Museum ehrenamtlich an einem Band arbeitet, der den 9.000 Franzosen im Lager Dora wieder ein Gesicht und eine Geschichte geben soll. Eines fügt sich in das andere und so gehen drei Generationen, die fast ein Jahrhundert trennt, auf eine gemeinsame Reise.

Filmcrew und Unterstützer kehrten gestern an die Gedenkstätte für eine Kranzniederlegung zurück (Foto: S. Dietzel) Filmcrew und Unterstützer kehrten gestern an die Gedenkstätte für eine Kranzniederlegung zurück (Foto: S. Dietzel)


Die knapp 24 Minuten gehen unter die Haut, machen den Schmerz, die Wut und die Trauer, die auch über 70 Jahre nach Kriegsende noch im Inneren schlummern greifbar. Dafür wurde „Colette“ im vergangenen Jahr mit dem Oscar in der Kategorie Kurzdokumentationen ausgezeichnet. Die Freude darüber war auch in Nordhausen groß, denn vor Ort fanden sich zahlreiche Unterstützer, ohne deren Hilfe der Film nicht zu realisieren gewesen wäre von der Firma Papenburg über den wissenschaftlichen Verein der Hochschule bis zur Polizei in Person von Hauptkommissar Jens Böhnisch und vielen mehr.

Im frisch sanierten Haus 19 der Hochschule kam man gestern zusammen, um den Film endlich auch in Nordhausen einmal vor Publikum zeigen zu können. Colette selber, inzwischen 94 Jahre alt, musste der Premiere aus gesundheitlichen Gründen fernbleiben wurde aber durch Regisseur Giacchino und Lucie Fouble vertreten.

Lucie Fouble (Mitte) und Regisseur Anthony Giacchino (Foto: agl) Lucie Fouble (Mitte) und Regisseur Anthony Giacchino (Foto: agl)


Die Premiere sollte mehr sein als eine Filmvorführung mit anschließender Gesprächsrunde und auch ein Appell für den Wert des Erinnerns werden. Denn wer sich erinnern kann, wer Einsichten aus dem Lauf der Geschichte zu ziehen vermag, der kann hoffentlich auch entsprechend handeln.

An der Hochschule wurde „Colette“ gestern zum ersten Mal mit deutschen Untertiteln gezeigt. Diese Version ist im Netz leider noch nicht zu finden, wer aber des Englischen mächtig ist und eine halbe Stunde Zeit erübrigen kann, der findet die volle Dokumentation hier
Angelo Glashagel