Tiefensee sieht existenzielle Bedrohung des Mittelstandes

„Alles tun, um Energiemangellage zu verhindern“

Sonntag
21.08.2022, 12:57 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
Thüringens Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee warnt vor „verheerenden Folgen“ möglicher Energieabschaltungen für die Wirtschaft und fordert, in der Krise die Belange von Handwerk und Mittelstand stärker in den Blick zu nehmen...

Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee sieht die Unternehmen in Thüringen aufgrund des Energiemangels und der rasant steigenden Energiepreise vor existentiellen Herausforderungen. „Wir befinden uns in Deutschland in der größten Energiekrise seit Jahrzehnten“, sagte Tiefensee zum Abschluss seiner Sommertour #neueenergiethueringen, auf der er sich in der vergangenen Woche über den Umgang der Betriebe mit der sich abzeichnenden Energieknappheit informiert hatte. Sein Fazit aus vielen Gesprächen und Besuchen fällt nüchtern aus: „Die Möglichkeiten der Energieeinsparung in den Unternehmen sind begrenzt und weitgehend ausgeschöpft“, so der Minister. „Die Umstellung der Produktion auf regenerative Energien kann wegen der mangelnden Verfügbarkeit entsprechender Produkte und Installationskapazitäten allenfalls mittelfristig eine Lösung sein.“

Aus diesem Grund richtet der Minister einen dringenden Appell an den Bund: „Es muss weiterhin alles unternommen werden, eine Energiemangellage zu verhindern. Sollte es auch nur zu partiellen Abschaltungen der Energieversorgung für die Wirtschaft kommen, wären die ökonomischen und letztlich auch sozialen Folgen für uns alle verheerend.“ Deshalb dürfe es auch keine Denkverbote dabei geben, die Energieversorgung zu sichern: „Ein Herunterfahren von Kraftwerken, die laufen und zur Bewältigung der Energiekrise beitragen können, sollte in der momentanen Situation eigentlich ausgeschlossen sein – egal, welche Energieträger dort jeweils zu Einsatz kommen. Den Luxus, zwischen ‚guter‘ und ‚schlechter‘ Energie zu unterscheiden, können wir uns im Moment einfach nicht leisten.“

Sorgen bereite ihm aber auch das erratische Agieren der Energiemärkte selbst. „Gerade in den liberalisierten Markt des Stromhandels ist ein entschiedenes Eingreifen notwendig“, so seine Forderung. Derzeit liegen die Strompreise auf einem Allzeithoch – an der europäischen Strombörse EEX stiegen sie im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 500 Prozent. „Dafür gibt es teilweise sachliche Gründe – aber eben auch ‚hysterische Spitzen‘ und einen Gutteil Spekulation“, so der Wirtschaftsminister. Künstlich und spekulativ in die Höhe getriebene Strompreise an der Strombörse jedoch seien Gift für die Wirtschaft und nicht weiter hinnehmbar. „Es bedarf eines Mechanismus', der spekulative Spitzen begrenzt und die realen Preise abbildet“, sagte Tiefensee.

Kritisch sieht der Minister daneben auch die derzeitige Fokussierung der bundesdeutschen Energiepolitik auf die Privathaushalte und die energieintensiven Industrien. „Der Bund muss noch stärker die Belange des Mittelstands in Handwerk und Industrie in den Blick nehmen“, machte Tiefensee deutlich. Dies sei auch deshalb notwendig, weil es wegen der Komplexität und des hohen Verflechtungsgrads vieler Lieferketten nahezu unmöglich sei, Rangfolgen bei der Reduzierung von Gas- bzw. Stromliefermengen festzulegen. „Wegen eines Rädchens, das in einem oder zwei Betrieben nicht mehr hergestellt wird, kann am Ende das Getriebe einer ganzen Branche stillstehen“, so der Minister. Insofern sei es nahezu unmöglich, Prioritäten für den Energiebezug zu bestimmen. Deshalb sei es wichtig, jetzt Förderinstrumente aufzulegen, um gerade kleinen und mittleren Betrieben im Bedarfsfall auch finanziell unter die Arme zu greifen: „Mittelständische Unternehmen und nicht nur Privathaushalte oder energieintensive Industrien brauchen vom Bund Unterstützung im Mangelfall – und mittelfristig zur Umstellung ihrer Produktion“, so Tiefensee.

Insgesamt hatte der Minister in der vergangenen Woche 18 Unternehmen sowie einige Forschungseinrichtungen besucht, um sich ein Bild von den Folgen der Energiekrise vor Ort und den Strategien zur Umstellung der Energieversorgung zu machen. Das Ergebnis seiner Gespräche und Diskussionen vor Ort fällt dabei eindeutig aus: „Das Thema Dekarbonisierung hat bei den Unternehmen hohe Priorität. Neben Arbeitskräftemangel und Lieferengpässen stehen die Fragen der Energiesicherheit und der exorbitant gestiegenen Energiepreise ganz oben auf der Agenda fast aller Betriebe.“ Daher sei es um so erfreulicher, dass Unternehmen und Forschungseinrichtungen in vielen Fällen bereits innovative Technologien und Lösungen entwickelt hätten, um von regenerativen Energien, höherer Energieeffizienz und Kreislaufwirtschaft zu profitieren.

Bei der notwendigen Transformation kommen jedoch zukünftig erhebliche Kosten auf die Betriebe zu. Laut einer KfW-Studie belaufen sich die klimaschutzbedingten Mehrinvestitionen der deutschen Industrie bis 2045 auf gut 460 Milliarden Euro. Nach Schätzung des Thüringer Wirtschaftsministeriums entfallen davon gut neun Milliarden Euro auf die Industrieunternehmen im Freistaat – das entspricht einer Investitionssumme von etwa 380 Millionen Euro jährlich.