Betrachtet

Drohende Szenarien?

Sonntag
24.07.2022, 16:18 Uhr
Autor:
psg
veröffentlicht unter:
Wenn man hört und liest, was der CDU-Politiker Norbert Röttgen, zuständig für außenpolitische Belange seiner Partei, so alles prophezeit, wäre man geneigt zu glauben, die Apokalypse könnte bevorstehen: wenn Putin den Krieg gegen die Ukraine gewinnen sollte. Dann stünde er, Gott bewahre uns, über kurz oder lang vor unserer Haustür, um seine Vision, Russland in alter Macht und Größe wieder herzustellen, zu verwirklichen. Unsere Demokratie könnten wir dann zu Grabe tragen...


Nur mit Stärke und Entschlossenheit könne man, so Röttgen, das drohende Unheil verhindern: mit Waffenlieferungen für die ukrainische Armee. CDU-Chef Friedrich Merz pflichtet ihm bei. Wenn doch da nicht der Kanzler Scholz so zögerlich wäre. Wie dem auch sei, der Ukraine-Krieg beschäftigt uns hierzulande jetzt schon, mehr als uns lieb sein mag. Seine Auswirkungen könnten noch spürbarer und schmerzhafter für uns werden.

Ende Februar waren es schon über 23 000 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die in Thüringen angekommen sind. Auch aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und Ländern Afrikas kommen die Menschen. Bis Jahresende könnten es 40 000 Migranten werden. Das wären 10 000 mehr als im Rekord-Flüchtlingsjahr 2015. Wohin mit ihnen? Einige Kommunen klagen bereits händeringend über fehlende Unterkunftsmöglichkeiten. Der Landkreis vermeldet derzeit um die 1000 ukrainische Flüchtlinge, überwiegend Frauen und Kinder.

Ein Schlussstrich hinter dieser Zahl wäre gezogen, wenn auf diplomatischem Weg ein Friedensabkommen zwischen Russland und der Ukraine gelänge. Derzeit noch ein Wunschdenken. Putin, das scheint wahrscheinlicher, wird die eroberten Gebiete um Donbass und Luhansk sich einverleiben. Die Aussage des Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, alle Gebiete sich wieder zurückzuholen, ist reine Illusion. Auch die Vorstellung des Kremls, die ukrainische Armee möge die Waffen strecken, sich ergeben, dann wäre binnen eines Tages Frieden.

Der frühere Kremlchef Dmitri Medwedew machte klar, dass facto nur ein Diktatfrieden Moskau zur Einstellung der Kampfhandlungen bewegen werde. „Es werde Frieden nur zu unseren Bedingungen geben“, polterte er. Mit anderen Worten: Donbass, Luhansk nebst Krim werden und bleiben russisch. Für die Ukraine, signalisierten ihre Vertreter, sei ein neutraler Status vorstellbar unter der Voraussetzung, dass Staaten wie Kanada, Türkei und Polen die Sicherheit des Landes garantierten. Ob Rot, Grün, Schwarz oder Gelb – wer da meint, mit dem Kriegsverbrecher Putin könne man nicht verhandeln, zieht nach meiner Meinung das Kriegsgeschehen nur in die Länge.

Frage ist, ob es dem „Zaren“ nur um Donbass und den Süden einschließlich der Krim geht. Womöglich nicht, wenn man ihn reden hört: „Wir haben ja noch gar nicht so richtig begonnen“. Medwedew: „Die Ukraine könnte in zwei Jahren von der Landkarte verschwunden sein“. Das ist Kriegs-Rhetorik. Es hilft uns heute nicht weiter, den Überfall Russlands auf die Ukraine mit den Verbrechen der USA zu vergleichen. Was auch immer den Kreml zum Einmarsch bewogen haben mag und der Westen daran nicht schuldlos sein mag, es ist und bleibt ein Verbrechen. Fakt ist: Der Krieg ist uns seit 1945 nicht so nah gekommen wie gegenwärtig.

Ich verhehle nicht, einst Sympathien für den Mann im Kreml empfunden zu haben. Er machte ein bettelarmes Land unter Jelzin stark. Aber ein Machthaber, der offen droht, wohlwollend Angriffszenarien gegen Deutschland – die Armee sei blank und der Zeitpunkt günstig - im Fernsehen duldet, dem ist nicht mehr über den Weg zu trauen. Die russische Feuerwalze werde sich neue Ziele suchen, sagen deutsche Militärexperten, wie Ex-Bundeswehrgeneral Hans-Lothar Domröse. Es werde ein langer, zermürbender Krieg. Kein Deutscher kann sich ein bitteres Ende für die Ukraine vorstellen oder wünschen. Sollte es aber nicht gelingen, Putin zu stoppen und eine einvernehmliche Friedenslösung zu finden, wird eine Flüchtlingswelle zu erwarten sein, welche die von 2015 weit in den Schatten stellt.

Was das neben Corona, Energiekrise und Preissteigerungen für uns noch bedeuten könnte, mag man sich erst gar nicht vorzustellen. Auch der Landkreis sollte auf alle möglichen Szenarien vorbereitet sein. Wie ich Landrat Matthias Jendricke kenne, legt er die Hände nicht in den Schoß. Ob die Ukrainer dann richtig bei uns einkaufen? Peanuts!
Kurt Frank