Warum man heute wieder pilgert

Wenn der Weg das Ziel ist

Dienstag
19.07.2022, 09:00 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
Wo man nicht zu Fuß war, ist man nicht gewesen, heißt es. Man sieht und erfährt mehr von der Welt, wenn sie nicht an einem vorbeirauscht. Das mag noch einmal mehr gelten, wenn man pilgert statt einfach nur zu wandern. Religiöse Gründe wie ehedem spielen dabei aber kaum noch eine Rolle, wie man am vergangenen Freitag im Park Hohenrode erfahren konnte...

Im Park Hohenrode wurden die Pilger heute begrüßt (Foto: agl) Im Park Hohenrode wurden die Pilger heute begrüßt (Foto: agl)


Dr. Thomas Dahms ist eher durch Zufall zur Pilgerei gekommen, über die „technische“ Schiene, wie er sagt. Vor etwas über zehn Jahren wurde der Doktor der Geschichte und Fachmann für historische Kulturräume und Wegebeziehungen gebeten, der alten „Via Romea Germanica“ nachzuspüren.

Vor rund 800 Jahren war es Albert von Staden, seines Zeichens Abt und damit kirchlicher Würdenträger, der den Weg von Stade zur heiligen Stadt „per pedes“ einschlug. Zum Glück für die Nachgekommenen hat der gelehrte Herr seine Reiseroute penibel in einer Art sokratischem Dialog festgehalten. „Es gab zwei Dinge, die für einen Pilger damals Sicherheit bedeutet haben: ihr Pilgerabzeichen und die Kenntnis um den richtigen Weg“, erklärt Dahms. Die Aufzeichnungen des Abtes dienten Pilgern aus Deutschland also als nicht nur als Reisebericht sondern auch als Hilfsmittel zur Navigation.

Entlang des Südharzes vermerkt die Route so auch die Orte Walkenried, Neustadt und Nordhausen. Am vergangenen Freitag kamen hier wieder Pilger durch und machten Rast im Park Hohenrode. Der Weg zur ewigen Stadt ist für die meisten heute kein religiöser Bußgang mehr und man erwartet nicht die Vergebung aller Sünden und allgemeines Seelenheil. Wobei Letzteres in gewisser Weise doch recht nah an den Beweggründen der modernen Pilger liegen könnte. Das Gros der Menschen, die sich auf die „Via Romea“ machen, sind zwischen 50 und 80 Jahren alt, berichtet Dahms, einige jüngere Semester finde man aber auch auf dem Weg und für die meisten seien die Beweggründe heute „biographischer Art“.

Dr. Thomas Dahms kam über die technische Wegeplanung zur Pilgerei und blieb wegen der inneren Stärke und kulturellen Vielfalt der "Via Romea Germanica" (Foto: agl) Dr. Thomas Dahms kam über die technische Wegeplanung zur Pilgerei und blieb wegen der inneren Stärke und kulturellen Vielfalt der "Via Romea Germanica" (Foto: agl)

So kam auch Roswitha Spangenberg zur Pilgerei. „Ein diffuses Gefühl das mal machen zu wollen war immer da, aber ich habe nie jemanden gefunden, der mitlaufen würde und habe die Idee immer wieder verworfen. Dann wurde mir mein langjähriger Job gekündigt und ich dachte: jetzt ist es an der Zeit. Also bin ich losgegangen, auch ohne Begleitung“. Heute hat die gebürtige Nordhäuserin rund 5.000 Kilometer auf Schusters Rappen zurückgelegt und es bis nach Santiago de Compostella und Rom geschafft. „Wenn man den letzten Schritt macht und die Stadtgrenze überschreitet, dann ist man unendlich traurig, dass es vorbei ist und man ist unendlich froh, es geschafft zu haben.“ Losgelaufen ist sie damals mit 15 Kilo Gepäck, erzählt Frau Spangenberg, heute kommt sie mit acht Kilogramm aus. „Sie brauchen gut eingelaufene Wanderschuhe und "gut eingelaufen" heißt, dass man mindestens 500 Kilometer in den Schuhen zurückgelegt hat. Außerdem sollte man nicht am Rucksack sparen, der muss sitzen wie angegossen und gut gepackt sein. Ausreichend Wasser und ein paar solide Wanderstöcke dazu, das war es auch schon.“

Dr. Dahms weiß viel über das Pilgern zu berichten, zum Damals wie zum Heute (Foto: agl) Dr. Dahms weiß viel über das Pilgern zu berichten, zum Damals wie zum Heute (Foto: agl)


Am vergangenen Freitag schloss sich Frau Spangenberg den Pilgern im Park Hohenrode an, denn um die „Via Romea“ zu vollenden fehlen ihr noch die Etappen Stade-Nordhausen und Nordhausen-Rothenburg. Am Stück läuft kaum jemand den mit über 2.200 Kilometern längsten Pilgerpfad in diesen Breiten. Man läuft, wie es passt. Frau Spangenberg etwa nutzte die Urlaubszeit um ihre Etappen zu laufen.

Und damit man auch sicher anlangt, betreut Dr. Dahms als Wegebeauftragter für Deutschland die Streckenführung, ehrenhalber. Schon um 2011 weilte er in Nordhausen und hat mit Lokalhistorikern und Touristikern die Streckenführung durch den Landkreis organisiert. Ihm haben es vor allem die kulturhistorischen Landmarken entlang des Weges angetan, die einmal durch die europäische Geschichte führen könnten. Noch wichtiger sei aber die Begegnungen entlang des Weges. „Wenn sie so im Land unterwegs sind, merken Sie dass die Leute nicht so verbissen und verbittert sind, wie man das heute viele vielleicht glauben mögen. Unser Bild der Welt und der Menschen ist an der Stelle oft verzerrt. Die Via Romea Germanica ist ein Weg der Begegnungen, der solche Erlebnisse möglich macht. Man begegnet aber nicht nur Menschen und Orten, sondern auch Themen, die man so vielleicht nicht gesehen hat“. Und darin mag der Kern der modernen Pilgerei liegen: in der inneren Einkehr, der Reflexion, dem "zu-sich-finden". Die Begleiter entlang des Weges sind temporär, man geht vielleicht eine halben Tag, eine Woche oder zwei zusammen, erläutert Dahms, aber am Ende pilgert ein jeder pilgert für sich, in seinem Tempo, nach seinen Möglichkeiten und in eigener Verantwortung. Das heißt auch, ein jeder hat sich selbst um die nächste Unterkunft am nächsten Etappenziel zu kümmern.

Im Park Hohenrode haben das in diesem Jahr dankenswerter Weise Gisela Hartmann und Karin Meixner übernommen. Für die Durchreisenden fand man Logis im alten Kutscherhaus und rund um den Aufenthalt strickte Hartmann ein kleines Rahmenprogramm nach Nordhäuser Art. Zur Begrüßung waren neben dem Oberbürgermeister Kai Buchmann und dem Vorsitzenden der Bürgerstiftung Park Hohenrode, Tom Landsiedel, auch ihre königlichen Hoheiten Heinrich und Mathilde zugegen. Viel Trubel für die eher Ruhe gewöhnten Wanderer, aber man wollte einen guten Eindruck hinterlassen. Geht es nach Gisela Hartmann, könnten Nordhausen und Hohenrode zur „Adresse“ für moderne Pilger in deutschen Landen werden. Und so sieht man in der Pilgerbewegung, wie ehedem, auch ein wenig wirtschaftliches Potential, immerhin haben damals ganze Regionen von den Reisenden gelebt. Soweit wird man es dieser Tage wohl kaum bringen können aber seit der Jakobsweg zum spanischen Santiago als überlaufen gilt, sind mehr Menschen auf der alten „Via Romea Germanica“ unterwegs. Gut möglich also, dass die Besucher im Park am vergangenen Freitag nicht die letzten Gäste ihrer Art in Nordhausen waren.
Angelo Glashagel