Pilotprojekt geht in die 3. Runde

Realität schnuppern

Mittwoch
01.06.2022, 13:00 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
Bewerbung schreiben, vorstellig werden, pünktlich am Arbeitsplatz erscheinen, zusehen, lernen, selber machen - was manch Jugendlicher erst spät lernt, das soll der „Tag in der Praxis“ schon Achtklässlern nahebringen. An der Lessing-Schule wurde gestern die dritte Runde des Pilotprojektes eingeläutet…

An der Lessing-Schule wurde gestern die dritte Runde des "Tags in der Praxis" mit einer Berufsmesse eingeläutet (Foto: agl) An der Lessing-Schule wurde gestern die dritte Runde des "Tags in der Praxis" mit einer Berufsmesse eingeläutet (Foto: agl)

Die Arbeitslosigkeit in Nordthüringen hat den niedrigsten Stand seit 1990 erreicht, das konnte gestern die Agentur für Arbeit verkünden. Die Zeiten, da man in der Region Jobs händeringend suchen musste, liegen inzwischen über zehn Jahre zurück, heute treiben Agentur und Unternehmen ganz andere Sorgen: woher die Arbeitskräfte der Zukunft nehmen? Es gibt demographische Szenarien, in denen Thüringen bis zum Jahr 2040 so viele Arbeitnehmer an das Alter verliert, wie zur Zeit in den nördlichen Kreisen des Landes insgesamt tätig sind. Die Prognosen gehen von einem Verlust von über 194.000 Erwerbstätigen aus.

Ein Weg, dem entgegenzuwirken, ist die ordentliche Ausbildung des Nachwuchses. Anders als noch vor einem Jahrzehnt liegt die Qual der Wahl bei den angehenden Fachkräften und nicht den Unternehmen. Zusammen mit der Industrie- und Handelskammer und der Handwerkerschaft zerbricht man sich in den Arbeitsagenturen seit geraumer Zeit den Kopf darüber, wie man näher an die Jugend rankommt. In Nordthüringen ist man dabei auf die Idee gekommen, ein altes Konzept in die Moderne zu holen. „Wir sitzen öfter in solchen Runden zusammen und irgendwann kamen wir auf den UTP-Unterricht von früher. Wir sollten nicht so eitel sein, nicht aus der Vergangenheit lernen zu wollen und so wurde die Idee vom „Tag in der Praxis“ geboren“, erklärt der Chef der Nordhäuser Agentur für Arbeit gestern.

Im Kern ist das Anliegen das gleiche wie ehedem: Schülerinnen und Schüler sollen die Realität des Arbeitslebens in der Praxis kennenlernen. Anders als anno dazumals geht das aber heute nicht im Klassenverbund vonstatten, sondern wird individuell geregelt. An einem Tag in der Woche besuchen die Schülerinnen und Schüler der achten Klasse aus drei Schulen im Kyffhäuserkreis, dem Eichsfeld und Nordhausen ein Unternehmen. 120 verschiedene Anlaufstellen stehen zur Auswahl und die Aspiranten müssen sich bei ihrem Wunschbetrieb ordentlich bewerben. Und wenn es nichts wird, dann muss man sich etwas anderes suchen und noch eine Bewerbung schreiben, wie später im echten Arbeitsleben auch.
„Wir haben in der Schule üblicherweise die Praktika, die über mehrere Wochen gehen. Aber wenn sich daran die Ferien anschließen, dann bekommen wir die Schüler gut und gerne vier Wochen nicht zu Gesicht. Mit dem „Tag in der Praxis“ können wir direkt am nächsten Tag über das Erlebte sprechen.“, berichtet Kati Flöder, Schulleiterin der Lessingschule.

Schule, Handwerk, Industrie und Verwaltung haben die alte Idee in ein neues Gewand getaucht (Foto: agl) Schule, Handwerk, Industrie und Verwaltung haben die alte Idee in ein neues Gewand getaucht (Foto: agl)


Die größte Regelschule im Schulamtsbereich hat das Angebot zur Teilnahme am Pilotprojekt dankend angenommen und kann für die ersten beiden „Runden“ eine positive Bilanz ziehen. „Die Kinder haben das im Großen und Ganzen mit Begeisterung aufgenommen. Der eine oder andere stellt fest das ein Arbeitstag von sechs bis sieben Stunden ganz schön anstrengend sein kann und man dann richtig „platt“ ist aber das ist eine gute Sache.“ Der große „Renner“ seien die Autohäuser, die im „Portfolio“ des Projektes auch gut vertreten sind. Etwas unerwartet war das hohe Interesse am Einzelhandel, der bis dato leider nur schleppend an den „Tag in der Praxis“ getraut hat. „Der „tegut“ ist zum Beispiel dabei, da hatten wir direkt 19 Bewerbungen“, berichtet Flöder. So viele Plätze hatte man freilich nicht zu vergeben, also bekam nicht jeder das, was er oder sie gerne gehabt hätten. Am Ende bekommen die Schüler eine Bewertung von Seiten des Betriebes und auch bei der wird kein Blatt vor den Mund genommen. „Da sind bei ein paar Kindern Tränen geflossen weil die Bewertung nicht das war, was sie erwartet hatten. Aber da können wir dann wie gesagt direkt drüber reden und an den Schwächen arbeiten. Unsere Achtklässler haben insgesamt eine viel bessere Vorstellung von der Berufswelt. In einem Jahr müssen sie rein rechnerisch mindestens 12 Bewerbungen schreiben und Bewerbungsgespräche hinter sich bringen.“, so Flöder weiter. Das sei mehr Erfahrung, als die meisten „Großen“ bis zum Abschluss sammeln können.

Anklang findet die Idee auch bei den Unternehmen. In der Lessingschule kamen gestern 25 Firmen zusammen, um sich den jungen Leuten vorzustellen. „Das ging alles ganz schön schnell und mit soviel hatten wir gar nicht gerechnet. Als die Zahl der Teilnehmer zwölf überschritten hat, haben wir aufgehört von einer „Mini-Messe“ zu sprechen“, berichtet die Schulleiterin. Mit im Boot ist auch das Schulamt und die Schulträger, denn den „Tag in der Praxis“ könnten die Schulen allein nicht stemmen. Wenn etwa Schüler von außerhalb kommen, sind mitunter logistische Fragen zu klären und Ticktes zu bezahlen. Die Zusammenarbeit mit Schulträgern wie der Stadt Nordhausen oder der Landgemeinde Bleicherode sei bestens gelaufen, man habe viel Unterstützung erhalten, sagt Flöder.

Im Schulamt hofft man, dass aus dem Pilotprojekt eine feste Institution werden kann doch zunächst wolle man sich darauf konzentrieren, das Angebot auf andere Schulen auszuweiten, erklärte Franka Hitzing die gestern das Schulamt Worbis vertrat. In der nächsten Runde wird man weitere Schulen aus Heiligenstadt, Bischofferode, Breitenworbis, Mühlhausen, Artern und Ellrich mit ins Boot holen.

Für alle die dem Ende ihrer Schulzeit schon jetzt entgegen sehen, wird die Agentur für Arbeit zudem demnächst eine eigene „Ausbildungsbörse“ auf den Weg bringen, die am 15. Juni in der Uferstraße in Nordhausen stattfinden soll.
Angelo Glashagel