Lichtblick zum Wochenende

Gemeinsam sind wir immer stärker

Freitag
06.11.2020, 09:00 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
„In Krisenzeiten ist man gemeinsam stärker“ so lautete der Opener eines Artikels diese Woche in den KN. Stimmt, möchte man meinen. Doch leise regt sich Widerspruch in mir: ist das nur in Krisenzeiten so? Muss es nicht heißen, dass wir gemeinsam immer stärker sind?...

Ich möchte jetzt nicht Thälmann und seine fünf Finger als Faust als Bild bemühen, obwohl er physikalisch auf jeden Fall mit dem eindrucksvollen Bild recht hatte.

Derzeit erscheinen mir viele Bereiche unserer Gesellschaft sehr wenig gemeinschaftsorientiert. Das hängt vermutlich mit dem Wesen des Kapitalismus zusammen, in dem man/frau sich durchsetzen, seine Wichtigkeit und Einzigartigkeit beweisen und dabei ruhig auch mal die Ellenbogen ausfahren soll. Das ist die Triebkraft der Marktwirtschaft.

Vergessen wird dabei oft das Attribut „soziale“, das aber das verbindende Band zwischen Starken und Schwachen, den Reichen und Armen, den Glückskindern und Pechvögeln ist.
Die Starken sollen sich immer der Verantwortung bewusst sein, die Ihnen aus ihrer finanziellen Kraft und ihrer Macht erwächst und die der Allgemeinheit dienen muss.

Während die ersten sozialen Marktwirtschaftler ihren Arbeitern Häuser bauten, für medizinische Versorgung und Bildung sorgten und ihnen auch täglich in den Fabriken begegneten, hat die Börsenorientierung zur Folge, dass der Mensch zunehmend aus dem Blick gerät und nur noch die Rendite zählt. Die Entscheider müssen den Menschen, die sie entlassen, nicht mehr in die Augen blicken und ihre Reaktionen ertragen, wenn sie im Handstreich ihren und tausende Arbeitsplätze streichen. Das macht Entscheidungen unpersönlicher und damit leichter sogleich aber auch unsozialer (bzw. lateinisch: asozialer).

Solange die Starken und Mächtigen dafür sorgen, dass alle im Blick bleiben, eine gewisse Schere, die immer vorhanden war (auch in der Wandlitz-DDR) und sein wird, nicht zu weit auseinandergeht und das soziale System stabil bleibt, ist der soziale Friede stabil. Er bröckelt und bröselt erst, wenn die Achtsamkeit der Starken und Mächtigen nachlässt, Sie mehr auf die Mehrung ihres Reichtums und ihrer Macht und nicht auf den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft achten.

Dabei ist das kurzsichtig, kommt aber leider immer wieder vor. Schon die Propheten des Alten Testamentes haben die selbstvergessenen Reichen in Ihrem Land gegeißelt, wenn Sie nicht an die Witwen und Waisen dachten. Die ersten Christen waren deshalb so attraktiv für breite Bevölkerungsschichten, weil sie sich um Ärmsten der Armen kümmerten, sogar die ersten sozialen Berufe (Diakone) entwickelten und die Sorge um die Gemeinschaft verstetigten. Sie schufen das Fundament des Zusammenhalts auch unserer Gesellschaft.

Ich will jetzt gar nicht verkürzend darauf abheben, dass mit zunehmender Entchristlichung eine abnehmende Fürsorge in der Gesellschaft einhergeht. Das wäre zu kurz gesprungen, wenngleich auch Wahrheit in dieser Beobachtung steckt. Aber es ist nicht die ganze Wahrheit.

In Folge der Aufklärung hat der Mensch zunehmend mehr den einzelnen Menschen entdeckt, der sich zuvor nur als Angehöriger eines Stammes, später einer Gruppe, eines Volkes, viel später einer Nation wahrnahm und nicht primär als Einzelnen. Ein Einzelner war verloren. Wurde ein Mensch aus seiner Gruppe ausgestoßen, verlor er jeden Rückhalt und war allen Gefahren in damaliger Zeit schutzlos ausgeliefert. Die Sozialkontrolle, die oft als bedrängend erlebt werden konnte, entfiel, damit aber auch die schützende Funktion derselben.

Heute entfällt diese zumindest in größeren Städten. Wenn ich an meine Kindheit denke, da waren rothaarige Frauen und glatzköpfige Männer oft bösen Kommentaren ausgesetzt. Heute sind sie Trend und völlig normal. So verändern sich Dinge, GOTT sei Dank.

Um nicht missverstanden zu werden, ich schätze die Freiheit, die uns mit dieser Entwicklung gegeben ist, möchte aber, dass wir auf die gefährliche Seite derselben schauen und sie ernst nehmen. Denn zunehmende Individualität bedeutet auch die ihr innenwohnende Gefahr der zunehmenden Vereinsamung. Wer immer nur an sich denkt (gemäß dem Motto „die Menschen sind schlecht, sie denken an sich, nur ich denk an mich“), wird sich sozial zu anderen in Konfrontation begeben müssen, die als Verlierer dastehen und natürlich neiden, dass der andere auf Ihre Kosten reüssiert. (Deshalb müssen sich reiche Menschen hinter immer höhere Mauern oder auf Burgen zurückziehen und werden „Gefangene“ ihres „Erfolgs“)

Wir Menschen sind sozial angelegt. Wir brauchen einander, um uns selbst wahrzunehmen. Insofern ist es das Normale, dass wir uns umeinander sorgen. Wir dürfen für uns sorgen, aber unsere Freiheit endet immer dort, wo sie die Freiheit eines anderen beschneidet oder bedrängt. Achte ich nicht darauf, werde ich leicht zum Despoten, weil ich mich und meine Erfolge/Lebenssituationen wichtiger nehme (…first) als die meiner Mitmenschen.

Genau das nehme ich in der aktuellen Situation nicht nur im Landkreis wahr. Wenn wir wissen, dass es Hochrisikogebiete auf der Welt gibt, wieso muss ich dann dorthin in den Urlaub fahren/fliegen? Wenn ich nur mich in Gefahr brächte, wäre das eine Sache der individuellen Freiheit. Aber ich bringe meine Arbeitskollegen, meine Stammtischbesatzung, meine Kindergartenfreunde… auch in Gefahr. Mein nur auf mich und meine Bedürfnisse gerichtetes Handeln (ohne Rücksicht auf andere = rücksichtslos) hat Folgen für meine Nächsten und die ganze Gesellschaft. Der Gesellschaft, auf deren Funktionieren und auf deren Solidarität ich z.B. angewiesen bin, wenn ich erkranke und beatmet werden muss. Denn ich kann mich ja nicht allein behandeln, versorgen, beatmen…

Genauso die intellektuelle Frage nach dem Vorhandensein einer ernsten Gefahr für unser Leben durch ein Virus. Ich ringe um Fassung, wenn Menschen das in Zweifel ziehen. Zweifel, eigenes Nachdenken sind gut. Wir haben unsere Kinder so erzogen, dass Zweifel und Fragen gut sind. Denn wir lebten in einem System, in dem Zweifel angebracht waren, weil die Erfolge der Arbeiterklasse fast genauso angepriesen wurden wie sich heute der amerikanische Präsident selbst anpreist. Aber angesichts von hunderttausenden Toten weltweit ernsthaft gegen eine Maskenpflicht zu protestieren hat nichts mit Zweifel und kritischem Geist zu tun, sondern ist schlicht Realitätsverweigerung. Wenn das Virus wirklich nicht existiert, warum helfen dann all diese Zweifler nicht auf den Covid19-Stationen ohne Schutzkleidung aus (z.B. beim Putzen der Stationen) und dienen der Allgemeinheit bei der Rettung von Leben? Denn was es nicht gibt, dass kann diesen Personen nicht schaden.

Klar ist es nicht schön, dass wir diese Einschränkungen hinnehmen müssen und das Tragen der Masken ist gewöhnungsbedürftig. Aber es ist, angesichts der Alternative Beatmung auf einer ITS-Station, durchaus erträglich. Es ist vor allem sozial, denn es schützt ja nicht primär mich, sondern mein Gegenüber. Wenn das auch eine Maske trägt, dann ist uns beiden geholfen.

Der Bibelvers, der über dieser Woche steht, ist dem Römerbrief des Apostel Paulus (Röm, 12,21) entnommen. Dort heißt es: „21Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Ich finde das ein absolut zeitgemäßes Motto. Es fordert von uns, dass wir kritisch prüfen, was gut ist und was nicht. Es fordert nicht nur mich als Individuum, sondern als Vielzahl von Menschen auf, denn der Brief ist nicht an eine Person, sondern an eine Gemeinde gerichtet. Zwar als allgemeiner Appell, den aber verstehen wir besser, wenn er in der direkten Anrede formuliert wird.

Prüfen wir also, ruhig auch kritisch, aber ignorieren wir nicht die Folgen unseres Handelns für die Allgemeinheit. Wir werden gemeinsam alle dafür bezahlen oder wir werden alle davon nutznießen. Niemand kann der Situation ausweichen. Deswegen: nicht die Augen verschließen, sich in einfache Welten mit einfachen Antworten träumen und die Realität ignorieren, sondern miteinander und gemeinsam nach den tragfähigen Antworten suchen. Achtsam sein, die Regeln befolgen, Maske (er)tragen bis es für alle eine Antwort auf das Virus gibt. Eine Antwort für alle, denn gemeinsam sind wir immer stärker.
Ein gesegnetes und dankbares Wochenende, Ihr Superintendent Kristóf Bálint