An den ersten Lückenschluss zwischen den Bahnhöfen Walkenried und Ellrich im November 1989 erinnerte Michael Reinboth in einem spannenden und äußerst detailreichen Vortrag in der November-Zusammenkunft der Geschichtsfreunde im Nordhäuser Tabakspeicher...
Als SED-Politbüromitglied Günter Schabowski am 9. November 1989 eine überraschende Grenzöffnung ankündigte, war nicht nur sattsam bekannter Jubel zu vernehmen.
Weniger bekannt ist, was sich insbesondere unter den Diensthabenden an den offiziellen Grenzübergangsstellen bei Straße und Schiene abspielte. Dort nämlich herrschte vorrangig große Anspannung, Verunsicherung und Ratlosigkeit. Zunächst jedenfalls.
Faktisch über Nacht waren Grenzschützer, Transportpolizei, Zoll und Eisenbahner mit der Frage konfrontiert: Wie ist kurzfristig der Grenzverkehr auf Straße und Schiene zu bewerkstelligen? Es fehlten Befehle und Weisungen, ganz zu Schweigen von Verordnungen. In den Machtzentralen und Dienststellen in Ost und West duckte man sich ab. Von dort war trotz abermaliger Anfragen nichts zu erwarten oder wollte niemand auf die Schnelle erforderliche Weisungen erteilen. Die unteren Dienststellen blieben so in der Regel auf sich allein gestellt und rangen um pragmatische Lösungen. So erging es auch den Eisenbahnern im Grenzbereich zwischen Walkenried und Ellrich.
Am 11.11.1989 um 19.34 Uhr öffnete sich die Grenze zwischen beiden Orten. Zunächst war sie nur fußläufig passierbar. Eine provisorisch angelegte Straße folgte und schließlich fuhr auch die erste Bahn. Diesen Aktivitäten vorausgegangen waren zahlreiche Absprachen zwischen Verantwortlichen der DDR-Grenztruppen, der Trapo, der Polizei, dem Bundesgrenzschutz sowie den Beamten bzw. Angestellten von Bundesbahn und Reichsbahn.
Über drei Jahrzehnte war der Bahnübergang bei Ellrich nur für den Güterverkehr zwischen der DDR und der BRD zugelassen. Nun aber sollten wieder Reisezüge rollen. "Doch das ging nicht einfach so", machte Michael Reinboth in seinem Vortrag deutlich und blickte zunächst auf die Zeit zurück, in der immer mal wieder versucht wurde, mittels der Güterzüge die Grenze zu überwinden, was aber meistens scheiterte. Denn diese Züge wurden technisch und personell durch die Grenztruppen begleitet und streng überwacht. Immerhin gab es eine Telefonverbindung zwischen beiden deutschen Bahnunternehmen, die jedoch von den DDR-Sicherheitsorganen akribisch überwacht wurde. Schließlich war die Deutsche Reichsbahn Verkehrsträger Nr. 1 in der DDR.
Vor den Eisenbahnern hüben wie drüben stand nun die Frage, wer macht den Anfang? Was ist technisch und personell kurzfristig zu regeln? Züge und Personal bei der DR waren knapp. Die DB hielt auf der Strecke Northeim – Walkenried nur Triebwagen vor mit beschränkter Platzkapazität. Bislang hatte das für den grenznahen Personenverkehr immer ausgereicht. Inzwischen fuhren viele mit dem Auto gen Westen. Noch mehr aber waren auf die Bahn angewiesen.
Da bewiesen die Dienst habenden Bundes- und Reichsbahner Mut und Entschlusskraft, gepaart mit dem nötigen Organisationstalent. Da auf der Westseite in den zuständigen DB-Dienststellen Hannover und Göttingen unter anderem wegen des Wochenendes kaum jemand zu erreichen war, nahmen die Vor-Ort-Eisenbahner zwischen Northeim und Walkenried bzw. Ellrich und wenig später auch Nordhausen das Heft des Handels in ihre Hände. Hauptzentrale der Aktivitäten bildete das Fahrdienstleiter-Stellwerk in Herzberg. Hier wurde ein so genannter "Bahn-Befehl" ausgestellt. Von Hand geschriebene Fahrpläne wurden in Kraft gesetzt, vervielfältigt und Personal (Lokführer und Zugbegleiter) zu den Dienststellen beordert.
Die couragierten Bundesbahner setzten sich damit über Dienstvorschriften hinweg und mussten für ihre Handlungsweise unter Umständen gar mit Entlassung rechnen. Schließlich aber gab es "grünes Licht" für den ersten Triebwagen von Walkenried nach Ellrich. Als der Lokführer sich dem Bahnhof Ellrich näherte, sah er nur Grenzer, Polizei, Zollangehörige und Reichsbahner. Hier nämlich handhabte man noch das über Jahrzehnte gängige Grenzregime. Doch hinter der noch verschlossenen Bahnhofstür drängten sich hunderte von Reisewilligen. Schließlich wurde die Tür zum Bahnsteig geöffnet. Es herrschte großes Gedränge. Auf den Stempeleintrag in den Personalausweis wurde schließlich verzichtet, denn die Haltezeit in Ellrich war nur kurz bemessen, da der Zug ab Walkenried wieder eine so genannte Planleistung zu fahren hatte.
Michael Reinboth berichtete noch über weitere Begebenheiten, die im Zusammenhang mit der Wiederaufnahme des regulären Personenverkehrs zwischen Northeim und Nordhausen standen. Er dankte am Ende seiner Ausführungen unter anderem auch dem anwesenden Geschichtsfreund und Eisenbahnkenner Paul Lauerwald für dessen vielfältige Unterstützung bei der Erstellung des Büchleins "Der erste Lückenschluss – 25 Jahre Wiederaufnahme des Reisezugverkehrs zwischen Walkenried und Ellrich". Diese Broschüre diente dem Referenten aus Walkenried als Grundlage für seinen Vortrag.
Hans-Georg Backhaus