Rechtsextremismus bleibt größte Bedrohung

Thüringer Verfassungsgericht 2020

Montag
22.11.2021, 17:17 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
Der Thüringer Verfassungsgericht weist eine gestiegene Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten aus. Das "rechtsextremistische Personenpotenzial“ hat sich verdoppelt. Auch deshalb, weil seit letztem Jahr die AfD ein „Verdachtsfall“ ist und ihr „Flügel“ als „erwiesen rechtsextremistisch“ eingestuft wurden …

„Es kostet Überwindung, ein verfestigtes, verschwörungstheoretisches Selbstbild zu revidieren. Geschieht das nicht und bleibt das geschlossene Weltbild bestehen, dann wird Gewalt eine sehr reale Option“, versuchte sich heute Thüringens Minister für Inneres und Kommunales, Georg Maier, im Rahmen der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes 2020 als Psychologe.

„Wenn die Demonstrationsteilnehmer ihr Selbstbild einmal um diese ‚Echokammer‘ aufgebaut haben, dann ist ein Ausstieg oder eine Neuorientierung für die Betroffenen sehr schwierig oder unmöglich.“ Dabei bezieht sich Maier auf das Protestgeschehen im vergangenen Jahr gegen die Corona-Maßnahmen der Bundes- und Landesregierung. Eine herausragende Rolle käme, so der Innenminister, dem Landesverband Thüringen der AfD zu, da dieser prägend für das Protestgeschehen in einigen Regionen Thüringens gewesen sei und zur Radikalisierung der Szene beigetragen habe.
 
Nach diesem pauschal gefällten Urteil zu den Protesten kam Georg Maier zur größten Bedrohung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Thüringen: dem Rechtsextremismus. Insgesamt wurden 2020 1.312 politisch rechts motivierte Straftaten registriert. Das sind 63 Prozent aller politisch motivierten Straftaten in 2020 und bedeutet eine Steigerung um 11 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Angestiegen ist insbesondere die Zahl der politisch rechts motivierten Gewaltkriminalität auf 62 Fälle (2019: 49). Das bestätigt eine zunehmende Radikalisierung und Gewaltbereitschaft der rechtsextremistischen Szene in Thüringen. „Rechtsextremistische Gewaltkriminalität ist nicht nur in unserem Freistaat ein akutes Problem, sondern auch in unseren Nachbarländern“, erklärte der Minister.
 
Die Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ in Thüringen ist laut Verfassungsschutz auf gleichbleibend hohem Niveau (ca. 740 Personen) aktiv. Sie sorgen, führte Maier aus, durch ihre rigorose Ablehnung des Staates und seiner Repräsentanten immer wieder für Provokationen, die oft die Schwelle zur Strafbarkeit überschreiten. Dies gelte auch im Zusammenhang mit Aktivitäten in der Corona-Pandemie. Die Gruppierungen aus der „Reichsbürgerszene“ und der „Querdenkerszene“ verfolgen oftmals staatsfeindliche, rassistische, antisemitische und geschichtsrevisionistische Ideen, behauptete Thüringens oberster Gesetzeshüter und verwies auf die Neuregelung des Waffenrechtes, die zwischenzeitlich in Kraft getreten ist. Der Verfassungsschutz muss nun immer von den kommunalen Behörden in Thüringen bei waffenrechtlichen Erlaubnissen informiert werden. Vor diesem Hintergrund hat das Amt für Verfassungsschutz in Thüringen rund 20.000 Anträge bearbeitet. „Ich persönlich halte die Entwaffnung von Extremisten für zwingend geboten.“ Daher danke er dem Thüringer Verfassungsschutz für seinen Beitrag.
 
Das rechtsextremistische Personenpotenzial in Thüringen belief sich nach Zählungen der Verfassungsschützer 2020 auf insgesamt 2.180 Personen. Diese Anzahl entspricht einem Zuwachs um 1.260 Personen oder mehr als einer Verdoppelung. Grund hierfür ist die Einstufung des Landesverbands Thüringen der AfD als „Verdachtsfall“ und die Einstufung der Gruppierung „Der Flügel“ als „erwiesen rechtsextremistisch“ durch das Bundesamt für Verfassungsschutz. Erstmals wird damit bezogen auf den Berichtszeitraum 2020 der gesamte Landesverband der Thüringer AfD als Verdachtsfall in diesem Bericht dargestellt.

Ringo Mühlmann, innenpolitischer Sprecher der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag wies in einer Presseerklärung diese Einordnung seiner Partei empört zurück: „Die Aufnahme der AfD im Thüringer Verfassungsschutzbericht 2020 ist ein erneuter Tiefpunkt im politischen Missbrauch des Verfassungsschutzes durch die rotrotgrüne Landesregierung. Wir werden uns unser demokratisches Recht auf Opposition zur ideologisch geprägten Politik der linken Parteien nicht nehmen lassen!"
 
Die Zahl linksextremistisch motivierter Straftaten ist 2020 zurückgegangen. Dies betrifft auch den Bereich der Gewaltstraftaten.  Jedoch, so Maier, zeige die aktuelle Entwicklung im Jahr 2021, dass es im Freistaat schwerste Straftaten wie mehrfache Brandstiftungen oder Körperverletzungsdelikte gegeben hat. Auch unter Linksextremisten bestünde eine gestiegene Gewaltbereitschaft, die eine weitere Zunahme linksextremistischer Gewalttaten vermuten lasse, befürchtete der Innenminister.
 
„Gewalttaten werden gezielter, planvoller, ihre Auswirkungen werden massiver und betreffen zunehmend auch individuell ausgewählte Personen. Insgesamt hat sich der seit einigen Jahren feststellbare Wechsel der Aktionsformen weg von demonstrationsbezogener ‚Massenmilitanz‘ hin zu Gewalttaten konspirativ agierender Kleingruppen fortgesetzt“, betonte Maier.
 
Der islamistische Terrorismus ist auch in Thüringen eine anhaltende Gefahr. Deutschland ist in diesem Zusammenhang Teil eines einheitlichen europäischen Gefahrenraumes. „Neben Anschlägen in unseren Nachbarstaaten – zuletzt in Frankreich und Österreich – war auch Deutschland betroffen. Besonders hervorzuheben ist der Messerangriff mit tödlichem Ausgang Anfang Oktober 2020 in Dresden“, so der Innenminister. Das salafistische Personenpotenzial stagnierte im Jahre 2020 mit 135 Salafisten und weiteren 30 der „Islamistisch nordkaukasischen Szene“ zugerechneten Extremisten.


Die CDU-Fraktion kommentierte die Vorstellung des Berichtes so: „Die politisch motivierten Straftaten sind weiterhin ein Riesenproblem in Thüringen. Wenn man die statistisch belegten Sondereffekte des Wahlkampfjahrs 2019 ausklammert, bleibt für das Berichtsjahr 2020 mit 2045 Fällen immer noch ein signifikanter Anstieg gegenüber 2018 mit 1798 Fällen“, machte der innenpolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag, Raymond Walk, deutlich. Umso wichtiger sei es, den von der Union in den Haushaltsverhandlungen für 2021 erreichten Aufwuchs von acht Stellen beim Landesamt für Verfassungsschutz nun zügig zu besetzen. „Eine wehrhafte Demokratie braucht einen starken Verfassungsschutz. Auch und gerade in Thüringen“, erklärte Walk.
 
Dass er hierbei erhebliche Defizite bei der Landesregierung sieht, machte der CDU-Politiker mit Verweis auf eine parlamentarische Initiative seiner Fraktion deutlich: „Bereits im Mai 2020 haben wir ein angepasstes Konzept der Landesregierung zur Bekämpfung politischer Kriminalität eingefordert, doch noch immer ist nichts passiert und noch immer arbeiten wir auf Basis von Überlegungen aus dem Jahr 2014. Damals war die Welt noch eine andere“, verwies Walk auf die steigenden Fallzahlen bei der politisch motivierten Kriminalität, die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft, die Beobachtung der AfD vom Verfassungsschutz sowie die aktuelle, linksmotivierte Anschlagsserie auf vermeintlich rechtsextremistische Objekte und Personen.
 
Hinzu komme der erstmals im Verfassungsschutzbericht erfasste Phänomenbereich „Delegitimierung des Staates“, der die zunehmende Aggressivität bei Einsätzen im Zusammenhang mit der sogenannten Querdenkerszene abbilde, so Walk. „Wir verzeichnen in diesem Zusammenhang auch eine immer stärkere Aggressivität gegenüber Polizeibeamten. Allein 2020 gibt es einen Anstieg von 63 Fällen auf 227 in Thüringen. 145 Polizisten wurden dabei verletzt“, verweist Walk auf Zahlen des „Bundeslagebilds Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamte“. In diesem aufgeheizten Klima sei es umso unverständlicher, dass der Untersuchungsausschuss des Landtags zu politischer Gewalt in Thüringen noch immer nicht mit der Arbeit begonnen habe, weil die Linksfraktion sich weigere, einen Personalvorschlag für den stellvertretenden Ausschussvorsitz zu machen.