Erzählt

Manfreds große Reise

Sonntag
18.06.2017, 07:00 Uhr
Autor:
red
veröffentlicht unter:
Manfred ist ein Nordhäuser, wohnte dann in Bad Lauterberg und erinnert sich in der nnz an einen etwas außergewöhnlichen Schüleraustausch...


Laurie kam immer wieder gern nach Bad Lauterberg. Das erste Mal war es im Schüleraustausch im Sommer 1961. Mit der Klasse 10 der Städtischen Mittelschule nahm der junge Engländer an der Klassenfahrt an Main, Neckar und Rhein teil.

Die Freundschaft mit Manfred, der vorher allein auf die Insel gefahren war, währte mehr als 65 Jahre. Als Konrektor der Grammar School Wisbech (gegründet 1378) im Ruhestand erlag Laurie kürzlich einem Herzleiden.

Auf gut’ Glück war Manfred eingesprungen, als ein Mitschüler in Bad Lauterberg den Besuch in England bei dessen Pen Friend absagen musste. So kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gab es keinen freien Verkehr wie heute in der Europäischen Union. Also mussten ein Visum beim Britischen Konsulat in Hannover beantragt und Devisen, nämlich Pfund Sterling, bei der Landesbank beschafft werden. Die Stadtkasse Bad Lauterberg gab einen Zuschuss.

Für Jugendliche ist es heute eine Selbstverständlichkeit, mit einem Billig-Flieger für 16,99 € in nur einer Stunde auf die britische Insel zu schweben. Für Manfred war es eine Anderthalb-Tage-Reise. Am Bahnhof Kurpark brach er früh mit den Fahrschülern zur Oberschule in Osterode auf, fuhr mit der Bahn bis Hoek van Holland, ging an Bord eines Fährschiffes über Nacht nach Harwich, von dort bei English Breakfast mit Silberbesteck im Speisewagen nach London.

Angekommen in dem Menschengewirr des Bahnhofs Liverpool Street, durchquerte er nun im Taxi die Metropole zur Victoria Station. Für den 16-jährigen aus Bad Lauterberg überwältigende Eindrücke im tosenden Verkehr. Nicht leicht war es, den Bahnsteig für die Abfahrt zur Südküste zu finden. Und prompt saß er im falschen Zug. Nette Passagiere halfen, im Knotenpunkt Clapham Junction in den richtigen nach Worthing umzusteigen.

Das ist ein Badeort in der Grafschaft Sussex, vorwiegend von Pensionären bewohnt. Während in der jungen Bundesrepublik mit der Währungsreform 1948 alle Beschränkungen fielen, blieben in England noch eine zeitlang Butter und Fleisch, Zucker und Tabak rationiert. Der Gast aus Deutschland verhalf zu zusätzlichen Lebensmittel-Marken. Als ein Arzt-Besuch erforderlich, wurde kein Honorar fällig; denn neu war der staatliche Gesundheitsdienst.

Zwar hätte ihn der Unterricht in einer englischen Schule interessiert, aber der Besuch Manfreds fiel in die Sommerferien. So blieb viel Zeit für Radtouren und Schwimmen, je nach Gezeiten bis Mitternacht. Die Heimreise trat er in Begleitung Lauries an. Dessen Schulstunden reichten von 9 Uhr morgens bis 16 Uhr am Nachmittag. Was für ein Schock für Laurie, als beide schon um 7.10 Uhr zum Unterricht in Bad Lauterberg erscheinen mussten!

Während die meisten Schulfreude aus der Kneipp-Stadt ihre berufliche Ausbildung begannen oder nach dem Abitur ein Studium aufnahmen, wartete auf Laurie der Militärdienst. In Wales absolvierte er die Grundausbildung bei der Artillerie. Schließlich wurde seine Truppe zur BAOR (British Army Of The Rhine) entsandt und in Hildesheim stationiert. So konnte Laurie ein Weihnachten bei seinen Gasteltern in Bad Lauterberg in Ausgehuniform verbringen.

Als Manfred seine journalistische Karriere beim „Bad Lauterberger Tageblatt“ begann, besuchte er England zum zweiten Male – im Juni 1953 zur Krönung von Königin Elisabeth II. Auf einer Tribüne sah er die Royal Procession auf dem Wege von der Westminster Cathedral zurück zum Buckingham-Palast. Bei einem Onkel Lauries nahe dem Dorchester Hotel hatte er über einer Garage mit Rolls Royce geschlafen – dieser war Chauffeur eines BP-Direktors.

Zwei Jahre danach folgte sein nächster Besuch auf der Insel, diesmal zur Hochzeit Lauries mit Anne. Als das junge Paar wie ihre Landsleute im 19. Jahrhundert eine romantische Rhein-Reise unternahm, besuchten sie auch Bad Lauter- berg. Die Postverbindungen zwischen den beiden ehemaligen Schülern wurden dann kürzer, als Laurie Germanistik und Romanistik in Cambridge studierte und Manfred zwei Jahre bei einer Nachrichtenagentur in London war.

Zu jener Zeit fuhr er oft mit seinem kleinen englischen Sportwagen (Austin-Healey Sprite) übers Wochenende nach Worthing, traf sich mit Freunden von früheren Besuchen, wurde aber auch von Engländern geschnitten, die einen Sohn oder Vater im Luftkrieg über Deutschland verloren hatten. Ein Diplomat a.D., in den dreißiger Jahren beim Britischen Konsulat in Dresden, verblüffte manchmal mit etwas anrüchigen deutschen Chansons.

Ein Gentleman wie aus dem Bilderbuch, das war Victor, ein Beamter im damals noch „Kriegs“-Ministerium. Er schwärmte von Beethoven und lud Manfred zu Konzerten in der Albert Hall und der Royal Festival Hall ein. Sein Faible für Deutschland bewog ihn, in einem kalten Winter Bad Lauterberg und Jahre später nochmals den Harz zu besuchen. Wahrscheinlich betreute er Laurence George, der als Waisenkind zu Adoptiveltern gekommen war.

In all’ den Jahrzehnten, vor allem aber zu Anfang der Freundschaft nach dem Kriegsende, war nie darüber gesprochen worden. Bis sich eines Tages herausstellte: Lauries Eltern kamen durch deutschen V2-Beschuß auf London ums Leben; Manfreds Vater war in Nordhausen als Ingenieur bei einem Zulieferer für die Raketen-Produktion beschäftigt. Heute steht fest: Auch der törichte Brexit wird die Verbundenheit der Jugend beider Länder nicht auflösen.

Manfred war zwei Jahre vor dem Schüleraustausch mit England mit seiner Mutter nur mit einem Rucksack von Nordhausen nach Bad Lauterberg übergesiedelt. Der Zuschuss für die England-Reise der Stadtkasse Bad Lauterberg wurde vom Stadt- und Kurdirektor Dr. jur. Herbert Meyer, bewilligt, Oberbürgermeister Nordhausens von 1943 bis Kriegsende 1945. Er wurde von den Amerikanern inhaftiert, bei deren Abzug aus Thüringen mitgenommen und von der Spruchammer 74 des Internierungslagers Ludwigsburg-Ossweil als „Nazi-Aktivist“ eingestuft.

Seine Haftstrafe im Lager Staumühle (zwischen Bielefeld und Paderborn) endete am 3. April 1948. Dr. Meyer kehrte in sein Elternhaus Am Postplatz 4 in Bad Lauterberg zurück. Der Nordhäuser Zulieferbetrieb für die V2-Produktion im Kohnstein war die Mabag.